Bund übergeht Archiv für Agrargeschichte

von Fredi Lerch 26. April 2017

Soll das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation das Archiv für Agrargeschichte in Bern unterstützen? Die Experten waren dafür. Das Staatssekretariat hat das Gesuch abgelehnt. Die Beschwerde des Archivs ist hängig.

Das Archiv für Agrargeschichte (AfA) an der Villettemattstrasse in Bern ist eine wissenschaftliche Forschungsinfrastruktur, die 2002 auf private Initiative entstanden ist. Wissenschaftliche Agrargeschichte in der Schweiz hat keine politische Lobby: «Für die Rechten ist kritische Geistes- und Sozialwissenschaft eher ärgerlich als förderungswürdig. Und den Linken ist alles suspekt, was mit Bauern zu tun hat, das Ländliche steht für sie unter einem kollektiven SVP-Verdacht.» (Zeit, 12.4.2017)

Der Initiant und das Archiv

AfA-Leiter ist der Historiker Peter Moser. Aufgewachsen auf einem Bauernhof, KV, dann Matur und Geschichtsstudium in Bern, später in Dublin und Galway. Sein Interesse an der Agrargeschichte erwacht auch deshalb, weil ihn entschieden stört, wie voreingenommen und unbedarft Wissenschaftler, die sich als Intellektuelle verstehen, über das Agrarische reden: «Was, du arbeitest über die Bauern? Das sind doch alles reaktionäre Säcke!»

Moser promoviert in Bern über das Thema «Agrar- oder Industriestaat? Politik, Wirtschaft und Emigration in der bäuerlichen Gesellschaft Irlands im 20. Jahrhundert». In der Schweiz fällt ihm bei seinen Recherchen auf, wie reichhaltig und weit über die Agrargeschichte hinaus wertvoll die Aktenbestände sind, die bei Privaten, bäuerlichen Organisationen und landwirtschaftlichen Institutionen unerschlossen vor sich hin dämmern. Und er stellt fest, dass in bestehenden öffentlichen und privaten Archiven für Agrargeschichtliches kein verbindliches Interesse besteht. 2002 gründet er deshalb zusammen mit Archivaren, Agronomen und Historikerinnen das AfA als erstes virtuelles Archiv in der Schweiz. (Journal B erichtete 2012 zum zehnjährigen Bestehen.)

Im AfA wird aber auch geforscht. Die Publikationslisten des AfA-Teams zeigen die aktuellen Fragestellungen. Daneben werden laufend neu aufgefundene Quellenbestände im Agrar- und Ernährungsbereich nach wissenschaftlichen Kriterien erschlossen und danach den Eigentümern zurück- oder an öffentliche resp. private Archive zur sachgerechten Aufbewahrung weitergegeben – und so der Forschung im In- und Ausland zugänglich gemacht. Auf der Website des AfA können Interessierte auf den umfangreich bestückten Portalen «Quellen zur Agrargeschichte», «Personen der ländlichen Gesellschaft» sowie «Bild- und Tondokumente zur ländlichen Gesellschaft» online recherchieren.

Das Subventionsgesuch und seine Ablehnung

Personell ist das AfA sehr knapp dotiert: Fünf Mitarbeitende teilen sich in 2,5 Vollzeitstellen. Das Jahresbudget beträgt 400’000 Franken. Finanziert hat das Archiv seine Tätigkeiten bisher in erster Linie durch kompetitiv eingeworbene Forschungsgelder auf nationaler und internationaler Ebene; durch Beiträge, die Aktenbildner an die Kosten der Erschliessung ihrer Archivalien leisteten sowie durch Beiträge von Stiftungen und von einem Förderverein. Nun hat das AfA beim Bund erstmals um einen Förderbeitrag ersucht: 760’000 Franken für die nächsten vier Jahre.

Vom schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrat wurde das Gesuch gutgeheissen: «Die Aufgaben, die das Archiv für Agrargeschichte an der Schnittstelle zwischen Forschung und Archiven erbringt, sind in einem für die Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften zentralen Forschungszweig unverzichtbar. Sie werden in der Schweiz von keinem anderen Institut wahrgenommen.»

Über das Gesuch entschieden hat aber nicht dieser Rat, sondern das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI). Es lehnte das Gesuch «vollumfänglich» ab. Gegenüber dem «Echo der Zeit» (5.4.2017) nahm die zuständige Ressortleiterin Nicole Schaad schriftlich Stellung: Regierung und Parlament hätten beschlossen, künftig vermehrt Technologiekompetenzzentren zu fördern, die eng mit der Wirtschaft zusammenarbeiteten. In der modernen Forschungslandschaft ergäben sich zudem Verschiebungen zugunsten von Bereichen wie Bioinformatik oder Biomedizin. Neue Unterstützungsgesuche von Forschungsinstitutionen dagegen würden mit äusserster Zurückhaltung behandelt.

Wie aber kommt das Essen auf den Tisch?

Das AfA hat nun beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde eingereicht. Immerhin, sagt Moser, habe man sich im Rahmen eines bestehenden Gesetzes beworben: «Gemäss dem Gutachten des Wissenschaftsrates, der zur sachlichen Beurteilung dieser Gesuche geschaffen worden ist, erfüllen wir sämtliche Bedingungen, die der Gesetzgeber formuliert hat. Zudem wäre es ja grotesk, wenn eine Behörde, die den Begriff Innovation im Namen trägt, eine Förderung des AfA ablehnen könnte, nur weil dieses bisher keine Gelder der öffentlichen Hand erhielt.»

Der Entscheid des SBFI stösst vor allem im Ausland auf Unverständnis und Empörung, ist doch das AfA seit mehr als zehn Jahren in der international zunehmend gut vernetzten Community der AgrargeschichtlerInnen – der «rural historians» – der weitaus wichtigste Akteur aus der Schweiz. Beispielsweise vertrat das AfA zwischen 2005 und 2009 die Schweiz in wichtigen Forschungsvorhaben des COST-Projekts «Progressore». Und 2013 übertrug die European Rural History Organisation (EURHO) dem AfA in Bern die Durchführung der ersten, von rund 350 WissenschaftlerInnen besuchten EURHO-Konferenz, die seither alle zwei Jahre irgendwo in Europa durchgeführt wird.

Darüberhinaus sind Forschung und Dienstleistungen des AfA auch für die politische Öffentlichkeit in der Schweiz dringend nötig. Auch in Bern, wo man sich unterdessen schon für einen Agrarexperten halten darf, wenn man am Trottoirrand ein halbes Dutzend Radieschen züchtet und «Urban gardening» fehlerfrei aussprechen kann.

Moser: «Wir gehen heute alle davon aus, dass am Morgen, wenn wir aufstehen, der Tisch gedeckt ist. Gefragt wird nur noch: Was genau wollen wir auf dem Tisch? Teilen wir, oder teilen wir eher nicht? Und was machen wir mit dem Abfall, verbrennen oder recyclen? Aber woher das Essen kommt, unter welchen Bedingungen es von wem produziert worden ist – davon hat kaum mehr jemand eine grosse Ahnung.»