Mein liebes Kind!
Du bist kaum grösser als ein Kieselstein, aber trotzdem schaffst du es, dass es deiner künftigen Mama wochenlang speiübel ist. Du hast noch keinen Namen, der Arzt ist sich zu achtzig Prozent sicher, im Ultraschall einen Penis gesehen zu haben, aber die 15 Euro, die eine genetische Geschlechtsbestimmung gekostet hätte, haben wir uns gespart – wir lieben dich, unabhängig von deinen Fortpflanzungsorganen. Neulich hat deine Mama mir erzählt, dass sie sich manchmal an den Bauch fasst und mit dir spricht. Mich hat das sehr berührt. Und zugleich hat mich das verunsichert. Ich möchte auch mit dir sprechen. Aber mir fehlt dafür die Sprache.
Mit deinem grossen Bruder (Halbbruder, um genau zu sein) spreche ich Russisch. Russisch ist die Sprache meiner eigenen Kindheit, ich bin in der Ukraine in einer russischsprachigen Familie aufgewachsen. Man sagt, wenn schon mehrsprachig erziehen, dann sollten die Eltern mit ihren Kindern die Sprache sprechen, in der sie sich am wohlsten fühlen. Gut, das wären in meinem Fall längst Schweizerdeutsch und Deutsch. Aber Russisch ist meine erste Sprache, Muttersprache im wahrsten Sinn des Worts. Ich dachte, ich könnte deinem Bruder damit eine Tür öffnen zu meiner Vergangenheit, zu meiner Herkunft und damit ein Stück weit auch zu seiner, und, ganz realpolitisch und pragmatisch, zu einem gigantischen geografischen Raum, der früher einmal Sowjetunion hiess und wo man mit Russisch noch immer weiter kommt als mit Englisch oder Deutsch.
Ich hatte mir nichts dabei gedacht, weisst du? Russisch war für mich einfach eine Sprache, nicht mehr, nicht weniger. Dein grosser Bruder ist im Winter 2014 zur Welt gekommen, während des Maidans in Kyjiw. Ich war damals mächtig stolz auf die Ukraine, ein weiteres Mal bewies ihre Zivilgesellschaft Mut, nahm ihr Recht auf Selbstbestimmung wahr und vertrieb einen Despoten. Doch die Freude währte nur kurz: Plötzlich verleibte sich ein noch grösserer Despot die Krim ein, plötzlich tobte im ukrainischen Osten, im Donbas, ein offensichtlich inszenierter «Bürgerkrieg». Ich kann mich noch erinnern, wie ich eines Nachts deinen Bruder wickelte, er zappelte herum, flennte, ich redete schlaftrunken auf das Neugeborene ein, versuchte verzweifelt, ihn zu beruhigen – und erschrak, auf einmal hellwach: Mir dämmerte, dass ich meinem Kind die Sprache des Feindes beibrachte. Die Sprache des Feindes war auch meine Sprache. Zu wem machte sie mich?
Wie ich mir später erklärte, nährt nichts die Angst so sehr wie Hoffnung.
Seither sind bald neun Jahre vergangen. Oft genug habe ich das vor lauter Alltag selbst vergessen, und ihm das nie so direkt gesagt, aber wenn man es genau nimmt: Seit dein Bruder auf der Welt ist, zeit seines bisherigen Lebens, wird in der Ukraine mal mehr, mal weniger gekämpft und gestorben, Tag für Tag. Er ist im Schatten des Krieges grossgeworden, zwischen den Erwachsenen war es immer wieder Thema. Vor einem Jahr haben er und sein bester Schulfreund einen Brief an Putin begonnen, in dem sie ihn bitten wollten, die Ukraine endlich in Ruhe zu lassen – ich sollte das Schreiben, sobald es fertig wäre, nach Moskau schicken. Ich habe mir oft die Reaktion des Kreml-Beamten ausgemalt, der diesen Brief dienstbeflissen öffnet, den Brief zweier Grundschulkinder aus Berlin, die mit der Entschlossenheit der Verzweiflung eine Katastrophe verhindern wollen. Hätte er ihm wenigstens einen kurzen Stich versetzt, habe ich mich gefragt, ihn am Herzen gekratzt, bevor er ihn ins Altpapier geworfen hätte?
Vor bald einem Jahr überfiel Russland die komplette Ukraine – 24. Februar, das Datum geht nicht mehr weg. Weil es mit Diplomatie nicht geklappt hatte, schmiedeten dein grosser Bruder und seine Freunde Mordpläne: Sie rührten Putin Nüsse und andere Allergene ins Essen, sie stürzten ihn aus dem Fenster, liessen ihm ein Hochhaus auf den Kopf fallen oder schossen ihn mit einer gigantischen Zwille hinaus ins All. Zu meinem grossen Entsetzen erklärte dein Bruder seine ukrainischen Grosseltern für tot, obwohl sie gerade Richtung Westen flohen, und dass er die Ukraine nie wiedersehen würde: Er nahm, ganz intuitiv, den Verlust vorweg, weil, wie ich mir später erklärte, nichts die Angst so sehr nährt wie Hoffnung.
Dein Bruder kennt keine Ukraine ohne Krieg. Welche Ukraine wirst du kennenlernen, wenn du im Sommer zur Welt kommst? Neulich, während der Ultraschalluntersuchung, hast du dich mit deinen noch dürren Beinchen von der Gebärmutterwand abgestossen und einen kleinen Hüpfer gemacht. Das wurde aufgezeichnet, und wenn ich mit der Welt hadere, mich Zweifel plagen, ich Aufmunterung brauche, dann schaue ich mir nun diese kurze Videosequenz von dir an. (Die oder das Interview mit einem euphorischen Mann aus dem befreiten Cherson, der in gebrochenem Englisch zu einem Journalisten sagt, sie hätten in der Stadt keinen Strom, kein fliessendes Wasser, keine Heizung, kein Internet, keinen Handyempfang, aber sie hätten jetzt auch keine Russen mehr. Und fröhlich hinzufügt, sie könnten alles überleben, solange sie frei seien.)
Der Krieg hat mich verstummen lassen. Das macht mich wütend, und vor allem macht es mich traurig.
Ich freue mich auf dich. Aber ich weiss noch immer nicht, in welcher Sprache ich mit dir reden soll. Solange ich das nicht weiss, schweige ich, der Krieg hat mich verstummen lassen. Das macht mich wütend, und vor allem macht es mich traurig. Ich könnte Ukrainisch mit dir sprechen, meine Vatersprache mir endlich wirklich richtig aneignen, aber damit würde ich dich und deinen grossen Bruder entzweien, weil seine und meine Sprache all die Jahre die russische geblieben ist. Die einfachste Lösung wäre, auch mit dir Russisch zu sprechen, die Sprache von ihren Sprechern zu trennen, die in der Ukraine morden, vergewaltigen, Kinder entführen. Aber kann man das, kann eine Sprache losgelöst von der entsprechenden Kultur gesprochen werden, kann sie unschuldig sein? Oder ich lasse alles hinter mir, ziehe einen fetten Schlussstrich unter meine Geschichte, unter meine Biografie und spreche Deutsch mit dir (wie der ukrainische Grossvater es mit deinem Bruder tut – kein Wort Russisch mehr mit ihm seit Beginn des Angriffskrieges, nur Deutsch, ihr kleinster gemeinsamer Nenner). Könnte ich das mit meinem Gewissen vereinbaren? Könnte ich meine Wurzeln vergessen, verleugnen, so tun, als wäre ich schon immer hier im Westen gewesen? Welches Signal würde ich damit aussenden? Und ja, auch diese «Lösung» würde die familiäre Spaltung nicht verhindern, denn die «Geheimsprache» mit deinem grossen Bruder bliebe, ich will sie ihm nicht wegnehmen.
Ich verspreche dir etwas: Nach dem Krieg und wenn du grösser geworden bist, fahren wir zusammen in die Ukraine. Ich möchte dir zeigen, wo ich herkomme. Und das Land meiner Geburt selbst neu und besser kennenlernen. Per Bus, per Bahn werden wir sie von West nach Ost, von Nord bis zur Südspitze durchqueren – die Ukraine ist das flächengrösste Land, das komplett in Europa liegt, es gibt eine Menge zu sehen. Ausgerechnet durch den Krieg, durch Lageberichte von den Fronten, habe ich ihren Reichtum, ihre Vielfalt, ihre Schönheit kennengelernt, die Salzminen von Soledar, die Kirschblüten von Melitopol, die wilden Orchideen von der Kinburn-Halbinsel. Ich stelle mir vor, dass wir uns unterwegs die Bäuche vollschlagen. Mir ist etwas bange davor, aber ich will endlich Speck in Schokolade probieren, die Wassermelonen von Cherson schmecken wirklich so gut wie ihr Ruf, und die besten Tschebureky gibt es bekanntlich in Bachtschyssaraj.
Kommst du mit?
Dein Papa
Dieser Beitrag erschien zuerst beim Magazin Reportagen (Newsletter des 19.2.23).