Politik - Meinung

Bread and Roses oder das Anrecht auf Sicherheit

von Serena Dankwa 23. März 2024

Öffentliche Sicherheit Die Sozialanthropologin Serena Dankwa hielt im Rahmen der Museumsnacht im Polit-Forum Bern eine Rede zum Thema «Wie sicher ist der öffentliche Raum?». Darin bringt sie die Lebensperspektiven von Geflüchteten mit Sicherheitspolitik in Verbindung. Wir publizieren die Rede von Serena Dankwa in ungekürzter Form. Sie basiert auf dem Text «Vier Stunden Ausnahmezustand auf der Spitze des Eisbergs» des Migrant Solidarity Network.

Am Donnerstagabend 8. Februar hat ein Geflüchteter (Name unbekannt) im Regionalzug nach Yverdon-les-Bains 13 Passagiere als Geiseln genommen. Handyaufnahmen zeigen einen verwirrten Mann, der mit den Passagieren über die Ungerechtigkeit der Welt zu debattieren versucht. Vier Stunden später wird der Zug erstürmt, der Mann wird von der Polizei erschossen. Die Geiseln bleiben unverletzt.

Am folgenden Tag schreibt SP-Bundesrat Beat Jans : «Mit grosser Betroffenheit habe ich von der Geiselnahme in einem Regionalzug erfahren. Ich habe mit den involvierten Polizeikräften telefoniert und ihnen für ihren Einsatz gedankt. Die Bevölkerung hat ein Anrecht auf Sicherheit. Ich wünsche den Beteiligten und ihren Angehörigen viel Kraft bei der Bewältigung der Erlebnisse.»

Kein Wort zu dem Menschen, der erschossen wurde. Zu sehr scheint dieser Vorfall zu bestätigen, dass geflüchtete Personen eine potenzielle Bedrohung gegen «die Bevölkerung» darstellen. Unter dem Stichwort «Sicherheit» werden Asylgesetze laufend verschärft, Asylcamps isoliert und Repressionsmassnahmen ausgeweitet. Im Gegensatz zum Vorfall am 8. Februar macht aber diese langsame Gewalt, welche Geflüchtete zermürbt und in die Verzweiflung treibt, keine Schlagzeilen.

Wie sicher kann der öffentliche Raum für uns alle sein, wenn die Auswirkungen einer traumatisierenden Flucht komplett ignoriert werden?

Um wessen Anrecht auf Sicherheit handelt es sich hier? Das Asylgesuch des Verstorbenen war noch nicht abschliessend beurteilt worden, doch als Iraner lagen seine Chancen, Schutz zu erhalten, deutlich unter 50%. Trotz der desolaten Menschenrechtssituation, Diskriminierungen, Folter und Hinrichtungen fordert das Staatsekretariat für Migration (SEM) geflüchtete Iraner*innen mehrheitlich dazu auf, die Schweiz zu verlassen. Das «Anrecht auf Sicherheit» ist demnach kein universelles Recht, es ist das Privileg derjenigen mit dem richtigen Pass, dem richtigen sozialen Status, der richtigen Rassifizierung.

Laut RTS-Recherchen wollte der 32-jährige Iraner auf seine Situation als Asylbewerber aufmerksam machen. Wir erfahren zudem, dass er auf der Flucht in die Schweiz mehrmals misshandelt wurde, unter Angststörungen litt, depressiv und suizidal war – ein Therapieplatz wurde ihm nicht zur Verfügung gestellt. Nun soll das SEM den Fall aufarbeiten. Ob dabei auch ein Zusammenhang hergestellt wird, zwischen den Lebensumständen und der Verzweiflungstat?

Wie sicher kann der öffentliche Raum für uns alle sein, wenn die Auswirkungen einer traumatisierenden Flucht, die Unsicherheit von Asylverfahren und die existenzielle Armut und Perspektivlosigkeit der meisten Geflüchteten komplett ignoriert werden? Wenn «Kraft bei der Bewältigung der Erlebnisse» bei Geflüchteten keine Priorität hat? Wenn Menschen am Rande der Gesellschaft verzweifeln und ihren stillen Protesten kein Gehör geschenkt wird?

Wenn über Sicherheit gesprochen wird, dann müssen «alle» mitgedacht werden, sonst bleibt der öffentliche Raum unsicher. Denn mit den gängigen Antworten auf die aktuellen Krisen wird die Welt nicht sicherer: höhere Mauern, längere Grenzzäune, Wegsperrung, Militarisierung, Kriege; Gewalt und Repression machen uns letztlich unsicher. Ich plädiere auf Sicherheit für alle. Zusammen mit dem Migrant Solidarity Netzwerk, welches den Vorfall von Yverdon dokumentiert hat, fordere ich Lebensperspektiven für alle auch für Geflüchtete: Zugang zu psychologischer Unterstützung, Wohnraum, Arbeit, gesellschaftliche Teilhabe, kurz Bread and Roses. Nur so kann der öffentliche Raum sicher werden – für uns alle.