Schöner könnte «Terrain 1833» nicht benannt sein: Insula dulcamara, süsssaure Insel. Offiziell ist der Abschnitt zwischen der Ostermundigenstrasse und der Bushaltestelle Zentrum Paul Klee in der hinteren Schosshalde eine «Freifläche», aber in meiner Wahrnehmung ist es einfach ein Weg, ein Spickel Magerwiese und eine Wendeschlaufe für den 12-er-Bus. Der Weg führt entlang der Friedhofmauer und so hiess der Strassenabschnitt auch bis 2001: Friedhofweg. Dann wurden auf dem Gebiet Schöngrün, rund um das neue Zentrum Paul Klee, 18 Strassen, Wege und Plätze nach Werken des Künstlers umbenannt. Das war die Geburtsstunde der süsssauren Insel.
Am östlichen Ende dieses Biotops wird’s noch poetischer: Undo-endo. Und hier liegt mein «terrain vague», das kleine Stück Magerwiese, auf dem ich für einen kurzen Moment meinen Liegestuhl aufstelle. Ich weiss nicht so recht, ob es sich um ein Hundeklo handelt oder ein vergessenes Stück Land, um ein Experimentierfeld für Botaniker oder schlicht um Niemandsland. Jedenfalls sieht der Spickel ziemlich unkultiviert und chaotisch aus. Aber das macht auch gleich seinen Charme aus in dieser durchorganisierten, aufs Letzte genutzten Urbanität.
Klee und andere Pflanzen
Hier wäre Ruhe, wenn vor der Nase nicht die Autobahn tosen würde. Hier liesse sich über das Leben philosophieren, mitten in stacheligen Grashalmen und Magerwieseblümchen, einigen Hinterlassenschaften der Zivilisation und wohl auch einiger Hundetieren. Ich rieche nichts, aber ich höre und sehe viel.
Hinter mir im Schosshaldenfriedhof ruhen die Überreste einiger Zehntausend Bernerinnen und Berner. Darunter auch einige Bundesräte, aber auch Rudolf von Tavel und Ernst Kreidolf und Paul Klee. Jogger spurten zum nahen Wald, Hunde schnüffeln an der Sandsteinmauer, SchülerInnen und Pendler radeln vorbei. Vor mir – jenseits der Strassenschlucht – erhebt sich der Stadtteil Schönberg-Ost mit seinen «Wohnungen für den gehobenen Mittelstand», dem Demenzzentrum und einigen Verwaltungen, Praxen und Büros. Rechts von mir blüht unbehelligt eine gigantische Königskerze. Links steht ein roter Bern-mobil-Bus, der Chauffeur gewährt sich eine Pause. Und wenn ich in die Ferne blicke – über das bunt und von Menschenhand sauber angelegte Blumenfeld hinweg – erheben sich dort Eiger, Mönch und Jungfrau.
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Das Blumenfeld, in dem ich sitze, ist zwar auch bunt, aber alles andere als von Menschenhand angelegt und geordnet. Keine Tulpen, Gladiolen oder Sonnenblumen wachsen hier. Dafür Zittergras, Margritten, Schafgarben, Federnelken, Löwenzahn … Und: Ja, auch Klee!
Klee darf nicht nur im nahen Museum bewundert werden, er wächst auch hier direkt vor meiner Nase. «Er gedeihe vor allem in unterversorgten, kalchhaltigen Böden,» lese ich später zuhause. Und auch: «Magerwiesen gehören zu den artenreichsten Wiesentypen überhaupt, weil dort Pflanzen wachsen, die andernorts, wo gedüngt wird, keine Chance haben». Und noch etwas erfahre ich: eine Magerwiese zu planen, ist mit grossem Aufwand verbunden. Es braucht oft Jahre, weil der Boden zuerst abmagern muss. Die blühenden Pflanzen dürfen nur einmal – im Herbst – gemäht werden, wenn auch die letzten spätblühenden Pflanzen ihre Samen verbreitet haben.
Wunderbar, denke ich, dann bleibt wohl mein herrlich unkultiviertes Stück Bern am Rande der Urbanität noch eine Weile so ungeordnet wild, dass es fast ein wenig vergessen anmutet. Aber: ich weiss eigentlich sehr gut: auch hier ging nichts vergessen, auch hinter diesen paar Quadratmetern «Brachland» steckt irgendein städtischer Plan. Das Terrain 1833, ist – wie die restlichen 51,61 Quadratkilometer – genaustens vermessen, kartiert, registriert; es wird bewirtschaftet und gepflegt. «Vague» ist hier einzig mein Eindruck.