Blutversöhnung statt Blutrache

von Basrie Sakiri-Murati 20. April 2024

Justiz Oft hört unsere Kolumnistin während Übersetzungen vor Gericht das Wort «Kanuni». Was hat es mit diesem uralten albanischen Gesetz auf sich und wie sollen Schweizer Richter*innen darauf reagieren?

Vor Gericht höre ich immer wieder das Wort «Kanuni».  Ein Beschuldigter sagt zum Beispiel nach dem Urteil: «Unë u dënova, por Kanuni i Lekë Dukagjinit është në fuqi edhe pasi të lirohem!» («Ich wurde verurteilt, aber der Kanun des Lekë Dukagjinis ist auch nach meiner Freilassung in Kraft»).

Obwohl also der Täter in der Schweiz vom Staat rechtmässig verurteilt wird, ist für ihn der Fall noch nicht abgeschlossen. Er geht davon aus, dass die Blutrache weiterhin gilt. Mir läuten die Ohren, wenn ich das höre. Der Anwalt hingegen versteht es vielleicht nicht. Der Kanun ist ihm nicht bekannt. Es wäre wichtig, dass sich die Richter*innen von interkulturellen Vermittler*innen aufklären liessen.

Der Kanun enthält jahrhundertealte Gesetzesnormen.

Der Ursprung der Blutrache (albanisch «gjakmarrja») ist der Kanun. Der Kanun von Lekë Dukagjin ist das ursprünglich mündlich überlieferte albanische Gewohnheitsrecht. Der Kanun (abgeleitet von Kanon, Regel, Norm) enthält jahrhundertealte Gesetzesnormen, welche ursprünglich von einem Franziskanermönch gesammelt und niedergeschrieben wurden.

Sie blieben auch nach der Eroberung durch die Osmanen erhalten, obwohl die meisten Albaner damals zum Islam konvertieren mussten. Als es noch keine Gerichte und keinen Staat gab, regelte der Kanun fast alle Bereiche des albanischen Lebens: Privatrecht, Familienrecht, Straf- und Zivilrecht und so weiter.

Kanun wurde unter anderem bei Mordfällen angewendet. Mit einem Mordfall wurde die ganze Familie des Täters/der Täterin automatisch mit Blutrache «verschuldet», das heisst in die Schuld mit einbezogen. Die Familie des Mordopfers wurde verpflichtet, die Blutrache zu vollziehen. Deshalb musste die Familie des Mörders sofort nach der Tat um «Besë» (Ehrenwort) bitten.

Besonders in einem Mordfall war «Besë» wichtig, denn nach Kanun trat die Blutrache unmittelbar nach der Tat in Kraft und die Familie der Täter war gefährdet. «Besë» wurde von der Familie der Täter durch Verwandte oder Bekannte erbeten. Wurde «Besë» erteilt, durfte sich die Familie bis zur vereinbarten Zeit frei bewegen. Nach Ablauf dieser Zeit war sie aber wieder überall und jederzeit gefährdet. Meistens waren es Männer, aber es ist auch schon vorgekommen, dass Frauen oder Minderjährige umgebracht wurden.

Eine Mehrheit verzichtet auf die Blutrache. Aber im Bewusstsein vieler ist dieses alte Gesetz noch lebendig.

Warum greifen Kosovoalbaner in einem Konfliktfall heute noch zu Kanun, obwohl sie einen eigenen Staat und eigene Gesetze haben? Der konservative Teil der Gesellschaft möchte den Kanun als nationale Tradition bewahren. Sie betrachten es sogar als Instrument zur Bekämpfung von Kriminalität, weil der Staat keine Todesstrafe kennt. Ein anderer Grund kann sein, dass die Bürger den kosovarischen Gerichten nicht trauen, weil Korruption und Unprofessionalität immer noch verbreitet sind.

Schweizer*innen wundern sich vielleicht: Warum soll eine ganze Familie um ihr Leben bangen und mit Hausarrest bestraft werden, wenn ein Mitglied kriminell geworden ist? Nur weil der Kanun im albanischen Bewusstsein tief verankert ist? Nach hiesigem Rechtsempfinden ist das unsinnig. Das finden zunehmend auch jüngere Albaner*innen. Eine Mehrheit verzichtet deshalb auf die Blutrache. Aber im Bewusstsein vieler ist dieses alte Gesetz noch lebendig.

Eine Gruppe von fünf Student*innen, ehemalige politische Gefangene, startete 1990 eine sogenannte «Blutversöhnung». Ihre Aktion wurde von vielen Albaner*innen unterstützt, insbesondere auch von Professor*innen der Universität in Prishtina. Es gelang den jungen Menschen 2511 Versöhnungen zu erzielen. Hunderttausende Kosovo-Albaner*innen haben sich innert kurzer Zeit der Bewegung angeschlossen, obwohl das serbische Regime gegen diese friedliche Bewegung war und Kundgebungen für dieses Anliegen verbieten liess.

Es wäre wichtig, dass sich die Richter*innen von interkulturellen Vermittler*innen aufklären liessen.

Versöhnung statt Rache ist also möglich. Auch Schweizer Richter*innen müssen das wissen. Und Albaner*innen in ihrer Heimat und überall auf der Welt auch – damit es in Zukunft nirgends mehr Opfer aufgrund dieses uralten Gesetzes gibt.