Leichtfüssig und gehaltvoll zugleich: Die Zuschauer am Eröffnungsanlass des BewegGrund Festivals vom letzten Mittwochabend tauchen tief ein in die verschiedenen Aspekte und Kämpfe der Inklusion. Dass sich der Event vom durchschnittlichen Kulturanlass unterscheidet, ist schon vor Beginn sicht- und hörbar. Auffällig viele Zuschauer:innen sind im Rollstuhl unterwegs. An der Bar wird über die verschiedenen Dialekte der Gebärdensprache und den aktuellen Stand der Inklusionsinitiative diskutiert. Behinderung ist zentrales Thema, wohin man sieht und hört.
Ein Meilenstein wird gefeiert
Der Verein BewegGrund veranstaltet seit 25 Jahren Workshops, Performances und professionelle Bühnenstücke rund um inklusiven Tanz. Er begann damit in einer Zeit, wo noch kaum jemand das Wort Inklusion kannte. In den Aktivitäten sind alle Tänzer:innen willkommen, unabhängig ihrer körperlichen und psychischen Voraussetzungen.
Der Verein tut damit das, was er sich von der ganzen Kulturcommunity wünscht: Dass Menschen mit und ohne Behinderung selbstverständlichen Zugang zum Erlernen, Zuschauen, Anbieten und Mitarbeiten im Bereich Kultur haben. Auch die Stadt Bern hat Zeit und Energie in die Inklusion investiert: Vor fast 10 Jahren lancierte sie das Label «Kultur inklusiv» mit, welches seither in der ganzen Schweiz Verbreitung gefunden hat. Es ist der richtige Moment, um das Erreichte zu feiern.
Wer kann hohe Kunst darstellen?
Alec von Graffenried spricht in seiner Rede eine Hürde an: «Oft blicken wir zur hohen Kunst hinauf, wenn wir beispielsweise die Primaballerina oder die Soloviolinistin bewundern. Das sind Höhen, die wir gar nie erreichen können.» Daraus ergäbe sich eine gewisse Distanz zu einem Teil der Kunst, die Berührungsängste eher fördere, anstatt Menschen zusammenzubringen.
Indirekt bringt von Graffenried damit zum Ausdruck, dass inklusiven kulturellen Projekten die Ernsthaftigkeit und Professionalität manchmal abgesprochen werde. Wenn Darsteller:innen beispielsweise Perfektionsansprüchen nicht genügen, ihre Körper anders aussehen, oder sie langsamer sind oder sonst in irgendeiner Form nicht dem Bild von der vollen Funktionsfähigkeit entsprechen.
Dass professioneller Tanz und Behinderung keine Gegensätze sein müssen, beweisen am ersten Festival-Abend Elise Argaud und Kamel Messelleka
Der weit verbreiteten Vorstellung, dass ein Künstler körperlich und psychisch in engen Normen funktionieren können muss, widerspricht Susanne Schneider im Programmheft. Sie gewichtet den Ausdruck einer Persönlichkeit höher als den voll funktionsfähigen Körper.
«In ein Ensemble sollte aber niemand wegen einer Behinderung aufgenommen werden» findet die Preisträgerin des Schweizer Preises Darstellende Künste 2022, «sondern weil er oder sie ein ausdrucksstarker Künstler, eine ausdrucksstarke Künstlerin ist.»
Shonen beweist, dass es geht
Dass professioneller Tanz und Behinderung keine Gegensätze sein müssen, beweist am ersten Festival-Abend die französische Compagnie Shonen mit Elise Argaud und Kamel Messelleka, deren Körper anders sind. Sie bewegen sich mit der Unterstützung von menschlichen Prothesen, getanzt von Nans Pierson, Yumiko Funaya und Aloun Marchal, auf der Bühne. Argaud und Messelleka knüpfen dabei an Bewegungserinnerungen ihres Körpers aus einem früheren Lebensabschnitt an, Argaud als Tänzerin, Messelleka als Profiboxer.
Das selbstbestimmte Erkunden der Lebenslandschaft hat für Menschen mit Behinderung enge Grenzen.
Die beiden nehmen den Raum auf sehr unterschiedliche Art und Weise ein: Argaud mit ihrem lebendigen, präsenten Blick, den sie immer wieder durchdringend ins Publikum wandern lässt. Messelleka thematisiert Kampf, aber auch Humor und Leichtigkeit, wenn er vom Purzelbaum über den Flickflack und dem Rad die Möglichkeiten seiner humanen Prothesen auslotet.
Selbstbestimmung als grosse Kraft
Das Stück wird durch die eingesetzte Technik erweitert: Auf einem fast bühnenbreiten Bildschirm werden zusätzliche Szenen gezeigt. In einer der Szenen erkundet beispielsweise Messelleka selbstbestimmt einen Canyon. Und bricht damit erneut mit einer Normvorstellung. Denn Menschen mit Gehbehinderung können üblicherweise nur an Orte vordringen, die ihnen von der Gesellschaft als «barrierefrei» zugewiesen werden. Ein Canyon gehört in der Regel nicht dazu.
Das selbstbestimmte Erkunden der Lebenslandschaft hat für Menschen mit Behinderung enge Grenzen. Diesen sprichwörtlichen und landschaftlichen Graben überwindet Messelleka mit Hilfe seines Willens und seiner Prothesen.
Ganz subtil bekommen die Zuschauer:innen zu spüren, was Selbstbestimmung für eine Kraft darstellt. Was es bedeutet, wenn die behinderten Tänzer:innen in ihren eigenen Bewegungen, Absichten und Emotionen unterstützt werden und ihren eigenen Raum einnehmen. Die menschlichen Prothesen bleiben dabei selbstständig, verschmelzen jedoch in manchen Bewegungen beinahe mit den behinderten Tänzer:innen.
Das Publikum kann nur staunen über die Möglichkeiten, welche diese Zusammenarbeit eröffnet. So fliegt Elise Argaud am Ende des Stücks fast mühelos übers Parkett, mit ihrem sehr persönlichen Ausdruck.
Ausgrenzung als gemeinsamer Nenner
Es ist kein Zufall, dass Menschen mit und ohne Behinderung bei Shonen gemeinsam tanzen. Éric Minh, Choreograph und Gründer vor Shonen ist Sohn vietnamesischer Eltern, die vor dem Vietnamkrieg nach Frankreich geflohen sind. Aufgewachsen in einer Banlieue, erlebte er früh Ausgrenzung und Ablehnung.
Es hat sich Einiges zum Guten verändert, aber unsere Arbeit ist leider immer noch nicht obsolet geworden.
In einem Onlineinterview erklärt Minh, dass er gerne mit Kunst die Lebendigkeit an jenen Orten zeigt, wo Körper marginalisiert, unsichtbar gemacht, versteckt und vorwiegend in einem Licht der Schwäche präsentiert werden. Die Compagnie betrachtet er als einen Ort der gemeinsamen Praxis und des gemeinsamen Kampfes.
Noch nicht am Ziel
Fast könnte man ob all der gelebten Inklusion an diesem Abend meinen, das Ziel von BewegGrund sei erreicht. So selbstverständlich und leicht wird das Thema präsentiert, eingebunden in die stadtbernische Kulturszene. Aber da stehen doch noch ein paar Hürden mehr im Weg als «nur» die Stufen, die alle Rollstuhlfahrenden an diesem Abend auf dem Weg zu den Zuschauerrängen der «Dampfere» mit Treppenliften überwinden müssen.
Mirjam Gasser, Vorstandsmitglied von BewegGrund, stellt fest «Es hat sich Einiges zum Guten verändert, aber unsere Arbeit ist leider immer noch nicht obsolet geworden. Wenn man die Zusammensetzung von Tanz- und Theaterensembles anschaut, sind wir von Diversität oder inklusiver Besetzung noch weit entfernt. Auch der barrierefreie Zugang hinter der Bühne ist noch lange nicht so weit, wie er sein müsste.»
Stadtpräsident Alec von Graffenried ermutigt in seiner Rede den Verein: «BewegGrund, ihr seid vielleicht noch nicht da, wo ihr hinwollt. Aber ich versichere euch, ihr seid genau auf dem richtigen Weg!» Das Jubiläum ist somit ein Meilenstein, aber der Schlusspunkt dürfte noch lange nicht gesetzt sein.