Betrachtungen «am offenen Herzen»

von Rita Jost 4. November 2020

Es ist purer Zufall, dass zwei Bücher zeitgleich auf meinem to-read-Stapel gelandet sind, die beide unspektakulär sind und doch in mehrerer Hinsicht auffallen. «Tage mit Felice» von Fabio Andina und «Fünf Jahreszeiten» von Meral Kureyshi sind zwei herausragende Neuerscheinungen im Bücherherbst 2020.

Es sind zunächst einmal zwei sehr gekonnt geschriebene Schweizer Bücher, die Welten öffnen, und dies in präzisen Worten und schlichten Sätzen. Im Bleniotal beobachtet der Filmwissenschaftler Fabio Andina den Alltag des 90-jährigen Eigenbrötlers Felice, in Bern erleben wir dank Meral Kureyshi Liebesglück und das Liebesleid einer namenlosen, etwas unschlüssigen, introvertierten Bernerin mit kosovarischen Wurzeln.

Alltag im Bergdorf

Zuerst zu Felice in Leontica im Bleniotal. Er ist eine Art Heiliger, ein Buddha. Er weiss alles über Pflanzen, kennt die Pilze und die Menschen, spricht mit den Tieren und kann scheinbar Gedanken lesen. So jedenfalls erlebt ihn der Beobachter, der ihn – meist schweigend – begleitet, ihm zusieht beim Mittagessen am Granittisch vor dem Haus, beim Holzhacken, Minestronekochen am Holzofen, neben ihm sitzt in der Dorfbeiz und auf den Fahrten im Suzuki über die Serpentinenstrasse ins Tal hinunter. Vor allem aber ist er dabei beim frühmorgendlichen Bad des alten Mannes im Tümpel oberhalb des Dorfes. Hier taucht dieser seit Jahr und Tag und bei jedem Wetter vor Tagesanbruch ein und reinigt sich. Ein wichtiges Ritual. Fabio Andinas erstes Buch auf Deutsch heisst im Original «La pozza del Felice» (also «Der Tümpel von Felice»), was mit einfachen Worten Wesentliches umreisst. Die Lebensweise und die Philosophie dieses gänzlich undogmatischen Atheisten und Vegetariers, der – wenn er ganz gesprächig ist – Weisheiten von sich gibt wie: «Meiner Meinung nach soll jeder machen, woran er glaubt. Und amen.»


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In der kargen Sprache von Andina blitzen auch auf Deutsch immer wieder kurze Tessiner Dialektausdrücke auf. Die Übersetzerin Katrin Diemerling hat sie glücklicherweise nicht übersetzt. So bekommt man etwas mit von der Ausdrucksweise des Protagonisten. Man erfährt – nebst Pflanzenkunde und Geografie des Tals, nebst Details über Wetterphänomenen und Eigenheiten seiner Bewohner – also auch einiges über die Sprache. Und wenn Felice «seine Gedanken in die Tasse» vor sich taucht, wenn die Frauen mit den Kittelschürzen zur Messe eilen und die Schulkinder mit Stöpseln in den Ohren und  modischen Kaputzenpullis auf den Schulbus warten, dann wähnt man sich zeitweise wirklich dort, in dieser Welt, wo «der Föhn, die Kieferwälder ohrfeigt».

Liebesleid in Bern

Vom alten Holzhaus im Bleniotal in die Stadtberner WG, zu Meral Kureyshis unglücklich verliebter Dauerzweiflerin. Der Alltag dieser 37-jährigen ist so anders. Sie hat ihr Filmwissenschaftsstudium abgebrochen, jobbt nun im Kunstmuseum, lässt sich treiben zwischen Altstadt, Botanischem Garten und Münsterplattform. Und vor allem zwischen ihrer langsam ausgeleierten Langzeitpartnerschaft und einem unglücklichen Abenteuer mit einem ebenfalls unentschlossenen Liebhaber. Es wird gestritten, gelitten, geliebt. Die Protagonistin ist verletzlich, und sie verletzt; sie ist dünnhäutig und wäre empfänglich für Ratschläge, aber keiner will passen in dieses Leben zwischen Bern, Paris und Berlin, zwischen gutbürgerlichen Schweizer Familien und kosovarischer Verwandtschaft. Kureyshi hat in diesen zweiten Roman offensichtlich viel Autobiografisches einfliessen lassen (wie die Protagonistin ist sie 37, im Kosovo geboren, hat im Kunstmuseum ausgeholfen), aber sie distanziert sich auch vom Charakter ihrer Hauptperson. In einem Interview sagte sie kürzlich, sie sei ganz anders, «viel geselliger»; aber es habe sie eben interessiert, die Gefühle einer ganz anderen Person auszuloten. Das gelingt ihr auch überzeugend. Kureyshis Sprache ist knapp und eigenständig; man lässt sich vom Sound gerne forttragen, obwohl die Geschichte oft sprunghaft und manchmal auch irritieren ist. Am Ende klappt man das Buch zu mit dem guten Gefühl, einer jungen, vielversprechenden Autorin zugehört zu haben, von der man noch mehr lesen möchte.

Fazit

2 x gute, neue Schweizer Literatur, nicht nominiert für Preise, aber viel versprechend.

2 x ein Blick auf eine Welt, die nicht jeder kennt – und interessanterweise in beiden Fällen eingeteilt in praktisch gleichviele Jahreszeiten (bei Kureyshi) bzw. Tage (Andina)

2 Romane, die nicht nur gutgeschrieben, sondern auch (von kleineren Verlagen) gut lektoriert und sehr ansprechend verpackt in diesem Jahr erschienen sind

2 x Betrachtungen «am offenen Herzen»

2 x Lesestoff, den man gerne zur Hand nimmt und ebenso gerne verschenkt.

 


 

Meral Kureyshi «Fünf Jahreszeiten», Limmatverlag (200 Seiten)

Fabio Andina «Tage mit Felice», Rotpunktverlag (240 Seiten)