Bescheiden, neugierig, Mut machend

von Christoph Reichenau 5. Februar 2022

Das Kunstmuseum Bern zeigt 85 Werke von Jean-Frédéric Schnyder aus der Zeit bis 1985. Die Bilder und Plastiken könnten vielfältiger nicht sein. Eines eint sie: Die Herangehensweise des Künstlers, der sowohl Gattungen als auch Hierarchien in der Kunst für überflüssig befindet. Sehr lohnend.

Unversehens stand er am Rand der Journalist*innengruppe, die sich durch seine Ausstellung führen liess. Kuratorin Kathleen Bühler hatte das Werk kenntnisreich und lobend eingeordnet mit der Feststellung, dass es sich nicht einordnen lasse. Nun war der Künstler anwesend für Fragen. Jean-Frédéric Schnyder enttäuschte nicht. In verschmitzter Bescheidenheit, in „hauchdeutschen“ Brocken, wie er selbst-ironisch meinte, und mit minimalen Hinweisen gab er Erklärungen zu seinen Werken von den Anfängen bis in die mittleren 1980er Jahren. Ein befreiender Ausbruch aus der kuratorischen Geschliffenheit; Satzfetzen aus dem Handwerk des Malens, Gestaltens, Schnitzens, das – so einer seiner Sätze, der von Karl Valentin stammen könnte – viel Arbeit mache.

Was sieht man?

Die Ausstellung steht und hängt in einem niedrigen schlauchartigen Raum des Atelier-5-Trakts. In der Längsachse genau mittig stehen fünf Skulpturen. An den Längs- und einer Schmalwand hängen Bilder mit immer dem genau gleichen Abstand. Dies wirkt wegen der unterschiedlichen Grösse der Werke lebhaft. Auf der hinteren Schmalwand löst sich das Exakte, Abgemessene auf; dort herrscht kunterbuntes Durcheinander, das durch die überraschende Rahmung der Bilder noch gesteigert wird: Die Ecken der Blätter sind mit aufgeschnittenen Konservendosendeckeln „verstärkt“, was ihnen matten Glanz verleiht.

Die speziell gerahmten Bilder sind das Ergebnis eines Lehrgangs, den Schnyder mit seiner Frau, der Malerin Margret Rufener, in den 1970ern absolvierte, indem er die Vorlagen des Do-It-Yourself-Malkurs des Amerikaners Walter T. Foster abmalte und so das Malen lernte. Es ging um die Technik, nicht um die Sujets. Es geht Schnyder ums Lernen, ums Probieren, immer wieder.

Jean-Frédéric Schnyder & Margret Rufener
Flamencotänzerin, 1973 (Foto: Jean-Frédéric Schnyder)

Frühe Erfolge

1945 in Basel geboren und in Bern im Waisenheim aufgewachsen, machte Jean-Frédéric Schnyder in Wengen – dem Dorf der Lauberhornrennen – eine Fotografenlehre. Nach der Herstellung von Objekten und konzeptuellen Arbeiten nimmt Schnyder 1969 an Harald Szeemanns Ausstellung When Attitudes Become Form in der Kunsthalle Bern teil, 1971 an der Biennale de Paris, 1972 an der documenta 5 in Kassel. Noch nicht dreissig, hat er hohe Ehren in der Kunstwelt eingeheimst.

Dann beginnt er ernsthaft zu malen. Ohne Atelier, mit Rad, Rucksack und Staffelei schafft er 126 Berner Veduten, kleinformatige Abbilder der Hauptstadt mit Münster, Bundeshaus, Aare, Brücken, Friedhöfen, aber auch von Brachen mit struppigem Hund, Unterführungen, Einkaufszentren – von allem, was die Stadt ausmacht und bietet. Ähnliche Zyklen folgen: Wartesäle in Bahnhöfen (die es damals noch gab). Oder Autobahnabschnitte von St. Margrethen bis Genf, die er mit dem öV aufsuchte und 1993 im Schweizer Pavillon an der Biennale von Venedig zeigen konnte (an der er 2013 noch einmal teilnahm). Das Format der Bilder wurde bestimmt durch deren Transportierbarkeit unter dem Arm, auf dem Velo, im Zug. Da legte sich einer ins Zeug, um unsere Schweiz anhand wichtiger Aspekte zu erfassen, die üblicherweise nicht „kunstwürdig“ erscheinen, uns aber prägen genau in der Art, wie Schnyder sie malt: realistisch, mit hohem Anspruch, der indes die Spuren der künstlerischen Arbeit, des Farbauftrags nicht kaschiert, sondern offenlegt. Es sind Zeugnisse des Dargestellten so gut wie Zeugnisse der Darstellung als handwerklicher Vorgang. Es sind, auch dies, Zeugnisse einer fragilen Zeitgenossenschaft – wieviele der Wartesäle bestehen noch, wieviele sind noch offen?

Alles war schon da

„Alles scheint ihm würdig, Bild zu werden“, steht im Saalblatt des Kunstmuseums zu den gezeigten Werken, die thematisch, technisch, formal höchst unterschiedlich sind, aber alle von gleicher Bedeutung. Auch das Mittelmass habe seine Berechtigung, ist Schnyder überzeugt. In der Führung bezieht sich Kathleen Bühler auf Meret Oppenheim; deren Satz „Das Kunstwerk sucht sich seine Form“ lasse sich direkt auf Jean-Frédéric Schnyders Bilder und Skulpturen beziehen. Man kann es auch andersherum verstehen: Die Formen bestimmen das Kunstwerk mit. Wenn Schnyder berichtet, alles sei aus der Praxis entstanden, habe sich so ergeben und seinen Weg genommen, ist das wörtlich gemeint. Beispiele: Der Metallkoffer mit Hochspannungstransformator, auf dem die Plastik Empire State Building (1971) aus Legosteinen, Kaugummi, Rauchstäbli ruht, war halt da. Ebenso wie der üppig bemalte Holzsockel der aus Weymouthkiefer geschnitzten Skulptur (1982) zufällig im Atelier des Bildhauers lag, das Schnyder nutzen durfte. Oder die Figur (1977): Ein dünnes, langes Männchen aus Tannenholz geschnitzt und als Skelett in Unterhosen bemalt, die ursprünglich ein „Hagstüdli“ war, wie der Künstler sagt, ein Zaunpfosten. Alles war da und der Künstler arbeitete daraus und damit das Werk. Das Werk, das für sich steht und uns doch noch näherkommt, wenn wir seine Geschichte erzählt bekommen.

Das Besondere an Jean-Frédéric Schnyder ist, dass er auf seiner kurlig-knappe Art, unergründlich lächelnd, aus knappsten Sätzen Geschichten erzählt, während er uns Titel zu den Werken vorenthält. Kein Bild, keine Plastik ist angeschrieben. Wohl stehen im Saalblatt Bezeichnungen. Doch wer einfach durch die Ausstellung streift, muss ohne auskommen. Vielleicht sollen oder dürfen wir ohne auskommen, weil der Künstler uns zutraut, das Wichtige auch so zu erkennen und vielleicht sogar besser zu verstehen. Besser, weil es eigene Anstrengung braucht, die mit jener verwandt ist, die der Künstler geleistet hat.

Kunstfragen

Im kleinen Katalog einer Ausstellung „Wasserfarben auf Papier“ 1992 im Kunstmuseum Bern stehen 14 Fragen, die Jean-Frédéric Schnyder dem damaligen Kurator Josef Helfenstein (heute Direktor des Kunstmuseums Basel) gestellt hat und ebenso viele Fragen Helfensteins an den Künstler. Schnyder wollte etwa wissen: „Werden Kunstwerke durch das Anschauen abgenutzt?“, „Gibt es schlechte Kunst und wie erkennt man sie?“, „Was ist ein Stil?“, „Mit welchen Organen werden Bilder geschaut?“, „Wann ist ein Bild abstrakt?“ oder auch „Kann ein Analphabet Gedichte schreiben?“. Begreift man die Fragen nicht als Small Talk und Konversationsritual, gründen sie letztlich tief im Unbeantwortbaren und Fundamentalen.

Leider kenne ich Helfensteins Antworten nicht, nur dessen eigene – ihrerseits antwortlose – Fragen an Schnyder. Einige davon sind weiter aktuell: „Gibt es Bilder, die Redende zum Schweigen bringen können?“; „Eine mit Bremsspuren übersäte Betonpiste, eine verlassene Schutthalde, ein rostfarbener Alteisenhügel, ein zur Seite gekippter Wellblechabort: schön oder hässlich?“ oder „Ist die Kunst den Formen der modernen Unterhaltung moralisch überlegen?“.

Mich einen Moment in die Position des Antwortenmüssens versetzend, stelle ich fest: Auf Helfensteins Fragen lassen sich Antworten finden, mehr oder weniger befriedigend und gescheit. Schnyders Fragen sind weit weniger beantwortbar, bleiben offen, ohne dass die Beschäftigung mit ihnen nutzlos oder unergiebig erscheint. Sie bleiben. Etwa die Frage: Wann ist ein Bild „fertig“; ab wann macht ein weiterer Pinselstrich es weniger gut?

Dritchi

Eine schöne Bildreihe ist dem Familienhund Dritchi gewidmet, der übers Wasser setzt, einen Film anschaut, einem entgegenhechtet, den schlafenden Jean-Frédéric Schnyder im Bett bewacht und – letztes Bild – als Zweibeiner mit Pinsel und Palette, von goldenem Kranz umgeben, malt. Da sei der Hund im Himmel, sagt Schnyder. Nichts mehr, einfach im Himmel.

Jean-Frédéric Schnyder
Dritchi VIII, 1986 (Foto: Jean-Frédéric Schnyder)

Mit seiner Art, über seine Kunst zu reden, macht Jean-Frédéric Schnyder uns Mut, uns auf seine Werke einzulassen. Er lädt uns ein, gwundrig zu sein und nichts bierernst zu nehmen. Auch wer keinen kunsthistorischen Fundus hat, wie der Schreibende, darf raten, rätseln, lachen und das eine und andere Bild weniger gelungen finden, nahe am Kitsch, skurril, vielleicht unverständlich. Weil der Künstler seine Arbeit ernst nimmt, aber nicht unbedingt seine Werke, ermöglicht er einem, entspannt zu schauen und zu schreiben und nicht zu meinen, es gebe immer das Richtige oder das Falsche, das Erklärbare oder das Unerklärliche. Das ist ein Geschenk. Es führt nicht zum Lauen und Halbgaren, sondern zum Eigenen auch für den Betrachter. Das, was man seit einiger Zeit Teilhabe an Kunst nennt, könnte so beginnen.

Fortsetzung folgt in der Kunsthalle

Am 25. Februar startet in der Kunsthalle Bern eine Einzelausstellung mit Werken von Jean-Frédéric Schnyder, die seit 1985 entstanden sind, Fortsetzung und Ergänzung der Schau im Kunstmuseum. Es ist die Valérie Knolls letzte Arbeit in Bern; sie beendet im Frühjahr ihre siebenjährige Direktionszeit. Journal B wird sich damit befassen.