Ende Mai dürfte sich in der Bernischen Verwaltung ein kleines Erdbeben ereignet haben: Der Regierungsstatthalter Christoph Lerch hob in einem Entscheid eine Verfügung des Bernischen Sozialamtes auf, in der einer fünfköpfigen Familie vorläufig aufgenommener Personen der Grundbedarf der Sozialhilfe um rund 30% gekürzt wurde (Journal B berichtete). Das Brisante: Das Sozialamt stützte sich dabei auf eine Verordnung des Regierungsrates. Diese sei jedoch unzulässig, heisst es im Entscheid. Der Regierungsstatthalter erblickte im kantonalen Recht keine Delegationsnorm, die es dem Regierungsrat erlaubt hätte, eine Ungleichbehandlung der Sozialhilfeempfangenden ins Recht zu setzen. Folglich verletze die Verordnung des Regierungsrates übergeordnetes Recht.
Ein Einzelfall?
Grund genug also, die entsprechende Verordnungsbestimmung anzupassen, oder zumindest nicht mehr anzuwenden – möchte man jedenfalls annehmen. Der Regierungsrat ist hier jedoch anderer Meinung: Wie die «BZ» berichtete, wies das Amt für Integration und Soziales, welches Regierungsrat Pierre Alain Schnegg untersteht, die Sozialdienste an, vorläufig aufgenommenen Personen auch weiterhin den reduzierten Grundbedarf auszurichten. In der entsprechenden Mail an die Sozialdienste werde festgehalten, dass der Entscheid von Lerch noch nicht rechtskräftig und der Verordnungsartikel auch nicht ungültig sei. Der Entscheid sei denn für andere Statthalter*innen auch nicht bindend. Der Kanton Bern kennt zehn Verwaltungskreise, für die jeweils ein Regierungsstatthalter resp. eine Regierungsstatthalterin zuständig ist.
Tatsächlich berücksichtigte Lerch in seinem Entscheid gewisse Einzelfallfaktoren. So geht er für die Kinder der Familie von einem erhöhten Bedarf zur Deckung des Existenzminimums aus und berücksichtigt, dass im konkreten Fall offenbar diverse Arztrechnungen nicht von der Krankenkasse übernommen und seither nicht beglichen wurden. Trotzdem erscheint eine Fixierung auf den Einzelfall eher konstruiert, denn der Duktus des Entscheids ist doch recht eindeutig: Den Grossteil desselben verwendet Lerch darauf, die einzelfallunabhängige Unvereinbarkeit mit übergeordnetem Recht darzulegen. Erst zum Ende des Entscheids schreitet er zu den Einzelfallfaktoren, die denn auch eher zu den übrigen Argumenten hinzuaddiert werden.
Musterbeschwerde veröffentlicht
Gestern veröffentlichte der Berufsverband der Sozialarbeitenden, Avenir Social, deshalb eine Musterbeschwerde für ähnliche Fälle. Aus dem Entscheid werde deutlich, dass die Ungleichbehandlung von vorläufig aufgenommenen Personen übergeordnetem Recht widerspreche und die Verordnung somit rückgängig zu machen sei, heisst es in der dazugehörigen Mitteilung. Man empfehle deshalb bis auf Weiteres in ähnlichen Fällen Beschwerde beim zuständigen Regierungsstatthalteramt zu führen.
Der Kanton wünscht sich derweil eine Beurteilung durch das Verwaltungsgericht. Jedoch ist noch unklar, ob dieser überhaupt zur Beschwerde befugt ist, da er im entsprechenden Verfahren nicht Partei war.