In ihrer Nähe fahren im Minutentakt Züge in den Bahnhof von Bern, 20000 Autos donnern täglich über sie und jeder Pendler hat sie schon unzählige Male durch das Zugfenster betrachtet: die Lorrainebrücke. Diese unscheinbare und doch massiv wirkende Brücke hat auf den ersten Blick nichts gemeinsam mit den bekanntesten Brücken, die Robert Maillart gebaut hat.
Der Betonvirtuose Robert Maillart
Maillart, 1872 in Bern geboren, wird heutzutage auch schon mal als «Betonvirtuose» bezeichnet. Er verschrieb sich schon früh dem Stahlbeton, der Anfang des 20. Jahrhunderts zum bedeutendsten Baustoff wurde und es bis heute geblieben ist. Eines von Maillarts Spezialgebieten waren Stahlbetonbrücken. Er war überzeugt von der Wirtschaftlichkeit des Betons, und die Lorrainebrücke ist ein gutes Beispiel dafür: Die Brücke kostete rund drei Millionen Franken, der Baukredit wäre aber für 3,8 Millionen bewilligt gewesen.
Maillarts wohl bekannteste Brücke ist die Salginatobelbrücke in Graubünden. Diese schnörkellos schlanke, elegant in eine Felswand gebaute Stahlbetonbrücke wurde 1991 vom amerikanischen Berufsverband der Bauingenieure sogar als «historisches Denkmal der Ingenieurbaukunst» ausgezeichnet und stieg damit in den Kreis von nur 48 Bauwerken weltweit auf, in welchem unter anderem der Eiffelturm oder die Freiheitsstatue von New York stehen.
Eine etwas andere Maillart-Brücke
Die Lorrainebrücke dagegen erregt kein Aufsehen, wurde nie ausgezeichnet und wird unter Maillarts berühmtesten Bauwerken nicht aufgeführt. Grund dafür ist die Natursteinverkleidung, welche die Betonstruktur im Innern versteckt.
Stahlbetonbrücken waren um die Jahrhundertwende neu und ungewohnt, die Betonskelette wurden daher oft noch mit Stein verhüllt. Als Maillart 1905 für den Berner Schönausteg eine Betonbrücke vorschlug, zog man aus «Schönheitsrücksichten» das Projekt einer Kettenbrücke vor, die heute noch steht.
Der Betonvirtuose lernte durch diesen Misserfolg und arbeitete von nun an mit Architekten zusammen, um seine Brücken dem Geschmack der Auftraggeber anzupassen. Dazu äusserte er sich 1938 an einem Vortrag wie folgt: «Meisterwerke der Schönheit haben alle Völker und Zeitalter hervorgebracht. Dagegen ist der Geschmack der Masse der Gewöhnung und der Mode unterworfen. […] Wenn es galt, an Wettbewerben einen Preis zu erringen, so geschah es nie ohne Verbindung mit einem Architekten.»
Schnickschnack der Steinstadt
Bei einem Wettbewerb im Jahre 1910, als man Projekte für eine Lorrainebrücke prüfte, gewann er zwar nicht den ersten Preis, aber die Brücke, welche er mit zwei Architekten damals entworfen und eingereicht hatte, wurde 1928 unter seiner Leitung schliesslich gebaut. Sie orientierte sich äusserlich an der Nydeggbrücke, und die moderne Betonbrücke wurde daher, als Hommage an die alten Steinbrücken Berns, mit Naturstein verkleidet. Die Steinstadt Bern hatte wieder eine Steinbrücke.
Diese Anpassung Maillarts an den Geschmack der Auftraggeber gefiel nicht allen. Der berühmte Architekt und Designer Max Bill wie auch der Architekturhistoriker Sigfried Giedion bedauerten, dass Maillart in Bern die Gelegenheit nicht genutzt hatte, einen modernen Entwurf eigener Prägung zu realisieren. Max Bill ging 1949 noch weiter und warnte davor, dass man eine durch technische Konsequenz und Phantasie so hochstehende Leistung wie eine Brücke nie als Anlass nehmen sollte, zeitbedingten «Schnickschnack» hinzuzufügen, nur um das Bauwerk gefälliger zu machen. Das Resultat von architektonischen Zutaten sei immer, dass eine Brücke vergänglicher, zeitbedingter und weniger ehrlich werde.
Während Maillart in Bern auf eine Zusammenarbeit mit Architekten angewiesen war und bei kühneren Entwürfen den Auftrag wohl nicht bekommen hätte, hatte man in ländlichen Gebieten keine ästhetischen Vorbehalte und vergab den Auftrag dem jeweils Billigsten. Und so kommt es, dass Maillarts berühmteste Brücke heute in einem Tobel in Graubünden steht statt an prominenter Lage bei uns in Bern.