In einem Kurzbeitrag könnte es zum Leben von Anna Tumarkin heissen: Sie war eine Schweizer Wissenschafterin mit jüdisch-russischen Wurzeln und gehörte zu den vielen Hundert Russinnen, die um 1900 in die Schweiz kamen, um hier zu studieren. An der Uni Bern doktorierte sie und wurde als erste Frau weltweit Professorin an einer koedukativen Uni. Sie war eine eigenständige Philosophin und kämpfte ein Leben lang für die Rechte der Frauen. In Bern ist eine Strasse im Hochschulquartier nach ihr benannt.
Nun wird diese Kurzformel dem aussergewöhnlichen Leben der Pionierin natürlich niemals gerecht und die Berner Historikerin Franziska Roggers könnte mit dieser Zusammenfassung wohl nicht leben. Die 75-jährige Historikerin, die jahrelang das Archiv der Universität Bern leitete und zahlreiche Bücher und Studien zu Frauenbiografien veröffentlichte, hat das Leben und Wirken der ersten Professorin minutiös aufgearbeitet, hat Hunderte von Quellen gesichtet, hat Briefe übersetzt (oder übersetzen lassen), Sitzungs-Protokolle und Privatarchive durchforstet, Fotos zusammengetragen und liefert nun mit «Anna Tumarkin – das schicksalshafte Leben der ersten Professorin» (Stämpfli Verlag) ein 500-seitiges Schachbuch mit all dem, was in keinem Wikipediaeintrag jemals Platz gefunden hätte.
Jugend in Russland
Wir erfahren dank Franziska Rogger nicht nur, wie das Mädchen Anna Esther Tumarkin in Russland als Tochter eines vermögenden Kaufmanns aufwuchs und ein Mädchengymnasium sowie ein Lehrerinnenseminar besuchen konnte, wir begleiten die junge Frau 1892 auch auf ihrer ersten Auslandreise nach Bern, wo sie «alles neu und sonderbar» erlebte. «Bern war damals gleichermassen rückblickend wie vorwärtsschauend», schreibt Rogger über die Stadt, die damals gerade mit viel Pomp ihren 700. Geburtstag feierte.
Anna Tumarkin war eine fleissige Studentin. Schon mit 20 Jahren, im Juli 1895, erhielt sie ihren Doktortitel.
Kaum in Bern angekommen, immatrikulierte sich Anna Tumarkin als 6947-zigste Studierende an der Hochschule, die damals noch am Casinoplatz stand. Es war eine «mittelalterliche Schule» mit uralten, verlotterten Hörsälen. Aber anders als fast überall auf der Welt liess Bern Frauen zum Studium zu.
Vor allem junge Mädchen aus dem Zarenreich kamen in Scharen, zeitweise waren in den medizinischen Vorlesungen mehr Frauen als Männer. Und nicht alle hatten die nötige Zulassung zum Studium. «Bern war spendabel, offenherzig, leutselig», schreibt Franziska Rogger.
Förderer und Verhinderer
Anna Tumarkin traf auf einen jungen, weltoffenen und bei Studierenden äusserst beliebten Förderer, den Philosophen Ludwig Stein, der – wie der spätere Friedensnobelpreisträger und damalige Berner Erziehungsdirektor Albert Gobat – Friedensaktivist war. Anna Tumarkin war eine fleissige Studentin. Schon mit 20 Jahren, im Juli 1895, erhielt sie ihren Doktortitel. Ihre Dissertation zu Herder und Kant fand ungeahnt grosse Beachtung und wurde international publiziert.
Die weitere wissenschaftliche Karriere von Anna Tumarkin verlief dann nicht mehr ganz so reibungslos. Als sie, nach fünf Semestern in Berlin (wo die doktorierte Philosophin anfangs nur als Gasthörerin zugelassen war) nach Bern zurückkehrte, begann ihre wissenschaftliche Karriere an der Uni Bern. Dort war sie vielen Männern suspekt. Sie legten ihr Steine in den Weg, bemängelten ihre fehlenden Latein- und Griechischkenntnisse.
Nur dank unermüdlicher Lobbyarbeit von einigen befreundeten Professoren, erhielt sie schliesslich – 1898 – die Lehrerlaubnis. Allerdings nur als Privatdozentin und mit Beschränkungen und gehörigen Lohneinbussen. Immerhin: Bern war stolz. Das Berner Tagblatt schrieb zur Antrittsvorlesung, der Andrang sei «ungewöhnlich gross» gewesen, und das Intelligenzblatt vermerkte, die Privatdozentin habe ihre Aufgabe vorzüglich geleistet, ohne «die mindeste Spur von Befangenheit».
An der Uni Bern war sie vielen Männern suspekt. Sie legten ihr Steine in den Weg, bemängelten ihre fehlenden Latein- und Griechischkenntnisse.
Und Berns erste Dozentin wurde auch im Ausland beachtet. In Frankreich schrieb ein Blatt auf der Titelseite über Tumarkins Karriereschritt: «Le féminisme aussi est en marche».
Franziska Rogger dokumentiert all das und beschreibt alle weiteren Schritte der ersten Dozentin an einer koedukativen europäischen Uni. Das Buch liest sich leicht, Förderer und Verhinderer von Tumarkins Karriere werden zitiert. Mit Fotos und Zeitdokumenten wird das Leben und Wirken der Philosophin mit der Weltpolitik und den Entwicklungen auf ihrem Fachgebiet verknüpft, aber auch mit der Geschichte der Frauen in diesem Land. Tumarkin arbeitete aktiv an der Frauenausstellung für Frauenarbeit SAFFA mit.
Tumarkins Privatleben
Aufschlussreich sind aber auch die Schilderungen zur Privatfrau Tumarkin. So vernehmen die Leser*innen beispielsweise, dass sie sich mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie beschäftigte. Sie glaube nicht, dass eine Wissenschafterin andere Voraussetzungen habe als eine Fabrikarbeiterin, sagte sie im persönlichen Gespräch. Und – ziemlich überraschend! – sie selber hätte «jederzeit für Ehe und Mutterschaft die ganze Philosophie aufgegeben».
Ehe und Mutterschaft blieben ihr versagt. Sie lebte für die Philosophie und kämpfte für die Rechte der Frauen. Im Zweiten Weltkrieg stellte sie sich ganz in den Dienst der Geistigen Landesverteidigung. In der zehnteiligen Reihe von Radio Beromünster über den «Anteil der Schweiz an der Entwicklung der Wissenschaft», äusserte sie sich 1940 – als einzige Frau – über den Anteil der Philosophie an der Entwicklung der Schweiz. Darin betonte sie die Bodenhaftung schweizerischer Gedankenspiele und vertrat die Meinung, «dem Schweizer ist die Philosophie nicht etwas Spekulatives, sondern etwas Tätiges, etwas, das sich auf allen Gebieten des Lebens und der Forschung auswirkt.»
Details und grosse Zusammenhänge
Roggers Verdienst ist es, dass sie in ihrem Buch solche Stimmen zusammenträgt und in grosse Zusammenhänge einbindet. Aber auch, dass ihr Buch Einblick gibt in das universitäre Leben um die letzte Jahrhundertwende mit all seinen Intrigen und zwischenmenschlichen Animositäten. Die Autorin scheut sich auch nicht, Details wie Äusserlichkeiten zu erwähnen, die heutzutage wohl kaum geäussert werden dürften.
«Tumarkins Hässlichkeit war legendär» schreibt Rogger und zitiert einen Studenten (und späteren Doktoranden Tumarkins), der nach seiner ersten Begegnung schrieb: «Ihr Kopf war im Verhältnis zum Körper viel zu gross. Ausserdem machte ihr graues Haar, das sie in einem Knoten obenauf trug, den Kopf noch grösser. (….) Ihre Stimme hatte nur die höchsten und tiefsten Töne, zwischen denen sie immerfort wechselte.»
Richtig «wüescht» sei sie gewesen, sagten andere, und Kinder hätten sich vor ihr gefürchtet, «aber, wenn sie redete, vergass man ihr Aussehen und hörte fasziniert zu.» In ihren alten Tagen wurde die verdiente Wissenschafterin wegen ihres Aussehens sogar verspottet. Auch über ihre Studenten machte man sich lustig, sie wurden von Kommilitonen gehänselt.
Als Wissenschafterin allerdings war sie international anerkannt. Und als sie in ihren letzten Lebensjahren leidend war, konnte sie sich auf die Hilfe ihrer Wohn- und Lebensgefährtin Ida Hoff und auf die Unterstützung vieler Bekannter und Freundinnen zählen. Im Diakonissenhaus Siloah in Gümligen starb Anna Tumarkin 1951 «völlig verwirrt, nach langem, schwerem Leben».
Vor 25 Jahren wurde im Berner Hochschulquartier eine Quartierstrasse nach der ersten Berner Professorin benannt. Auch dies übrigens auf Initiative von Franziska Rogger, die viele Jahre zum Leben von Anna Tumarkin geforscht hat, und die nun mit dem Buch die umfassende Biografie dieser wichtigen Vorläuferin aller weiblichen Wissenschafterinnen vorlegt.