Berner Beat um 1968: die ultimativen Interviews

von Fredi Lerch 3. November 2021

In seinem neuen Roman porträtiert Elio Pellin die Berner Rockband «Silver Biscuits». In Gesprächen mit der Sängerin Regi, dem Schlagzeuger Sticks und dem Gitarristen Watt spiegelt sich eine Subkultur von Randständigen.

Es waren wilde Zeiten: Bern, 1964, die heisseste Band der Stadt, die «Silver Biscuits», spielen im «Bacchus Keller». Der Keller kocht und Toni, der Mann am Bass, ist in «Höchstform»: «Er ist mit seinen Motorradstiefeln, die er immer trug, vom Verstärker auf ein paar Biergläser gesprungen, mitten in Twist and Shout, und da gings los. Tische und Stühle wurden zu Kleinholz, von den Biergläsern im ganzen Keller war kaum mehr eins ganz. Du kennst die Geschichte, die Polizei hat alles geräumt, und im Bacchus-Keller fand nie mehr ein Konzert statt.» Und falls du die Geschichte der «Silver Biscuits» noch nicht kennst: Der Schriftsteller Elio Pellin erzählt sie im «Interview-Kurzroman», der in diesen Tagen erscheint.

Versorgt wegen Oppositionshaltung

Die «Silver Biscuits», das sind Regula «Regi» Walder (Gesang), Walter «Watt» Balsiger (Gitarre), Stefan «Sticks» Anderegg (Schlagzeug) und Toni Lüdi (Bass). Randständige sind sie alle vier. Lüdi zum Beispiel wuchs in einem Heim auf und ist irgendwie immer auf der Suche nach einer Familie, noch wenn er auf Tische, Klaviere oder mit dem Motorrad über einen Stacheldrahtzaun springt. Später heuert er auf einem Rheinschiff an, landet irgendwo in Südamerika und stirbt dort «in den 80ern» an einem Hirnschlag oder «auf eine weniger natürliche Art».

Regi ist eine wilde junge Frau aus einfachen Verhältnissen, und wenn’s um Beatmusik geht, sagt sie zu den Typen: «Ich habe keine Eier, ich habe ganze Eierstöcke.» Bald lebt sie mit Sticks und Toni in einer WG und Sängerin der Band kann sie nicht lange bleiben. Bevor die «Silver Biscuits» ihr einziges Album einspielen, wird sie schwanger und als Administrative im Frauengefängnis Hindelbank versorgt wegen «Oppositionshaltung und krankhaftem sittlichem Fehlverhalten». In der Knastzeit gebiert sie ihre Tochter und zieht später ins Tessin.

Journal B unterstützen

Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.

Die Mutter von Sticks war «Servierdüse», die von ihrer Chefin zur Prostitution gezwungen wurde, und sei später für ihn eine Mutter geworden, die nicht recht gewusst habe, «was sie mit mir anfangen soll». Aufgewachsen ist Sticks bei der Grossmutter. Seinen Vater hat er nicht kennengelernt.

Als einziger kommt Watts aus mittelständischen Verhältnissen. Sein Vater ist Ingenieur im Kraftwerkbau und reist mit seiner Familie «in der ganzen Welt herum». «Zurück in der Schweiz, das war nicht einfach», erzählt er, «hier wirst du nicht gerade mit offenen Armen empfangen, wenn du chli anders sprichst, dich vielleicht anders anziehst oder nicht immer so verhältst, wie man das erwartet.»

Musik, die andern Angst macht

Die drei, die nach Tonis Tod noch Auskunft geben können, machen in den Interviews mit dem Romanautor zur Musik, die sie damals gespielt haben, pointierte Aussagen. Für «Sticks» sind Rocksongs «Konzentrate, in drei oder fünf Minuten muss du eine Geschichte erzählen können. […] Für mich war immer Power wichtig, grad aus, nicht dieses verkopfte Zeug.»

Für Regi ist die Musik «für das Lebendigkeitsgefühl, Musik, die den andern Angst gemacht hat. Die neuen Klänge, das Heulen, das Ungehemmte. Und dann vor allem der Rhythmus.»

Watt träumt damals von Songs und musikalischen Ideen, von denen aus er improvisierend «in einem gewaltigen Jam auf Entdeckung» gehen könnte. Auf dem Weg zur «Kunst», die ihm vorgeschwebt hat, soll er auch eine Rockoper geplant haben. Die anderen der Band haben diese Ambitionen aber nicht interessiert.

Die «Silver Biscuits» hat’s nicht gegeben. Ein Schriftsteller hat sie erfunden. Aber er hat mit der Interviewform eine Erzählweise entwickelt, die sehr authentisch wirkt. Der Roman liest sich wie die Transkription von frisch von der Leber weg Erzähltem, strukturiert durch Nachfragen eines bemühten Journalisten. Es gibt mundartliche Wendungen, unvollständige Sätze oder kurze Abschweifungen zu Rockgeschichtlichem, zur Frauendiskriminierung oder zu Drogenerfahrungen. Ergänzend eingeschoben in die Interviews sind Artikel und Inserate aus fiktiven Zeitungen, aber auch ein Gesetzesartikel und ein Aktenstück. Beschlossen wird der Roman mit einem Literaturverzeichnis, das mit existierenden Buchtiteln ironisch einen Sachbuchcharakter hervorstreicht, und anfangen tut er mit anderthalb durchgestrichenen Seiten und der Selbstkritik des Autors: «Zu verkopft. […] Mind. siebenmal ‘ich’ muss vorkommen». (Was im anschliessenden Einleitungstext dann der Fall ist.)

plattencover livings
Je eine einzige Langspielplatte: Die Geschichte der Romanband «Silver Biscuits» erinnert manchmal an jene der «Livings». (Sammlung: Giancarlo Buletti)

Pellins Interview-Spiegelsaal

Beim Lesen der Interviews geht man durch einen Spiegelsaal, in dem sich Fiktives und Zeitgeschichtliches immer wieder anders durchdringen. Zum Beispiel ist Pellins Roman «Carlo von den Livings» gewidmet und jene Band hat’s in Bern gegeben, der Bassist hat Giancarlo Buletti geheissen und auch die «Livings» haben, wie die «Silver Biscuits», eine einzige LP gemacht.

Oder: Auf 15 Zeilen erzählt Sticks von Vögeli und dessen Band «Minks». Vögeli sei dann in die Drogen abstürzt und habe sich später in Spanien den Goldenen Schuss gesetzt. Irgendwie kommt einem diese Geschichte bekannt vor. Waren die «Minks» auch eine Berner Band? Beim Suchen wird schnell klar: Vögeli, die «Minks» und den Goldenen Schuss in Spanien hat’s gegeben, aber nicht in Bern, sondern im Roman «Ter Fögi ische Souhung» (1979) von Martin Frank (der in Bern aufgewachsen ist).

Oder der grösste Auftritt der «Silver Biscuits» im September 1968 in der Berner Festhalle: Schon meint man, Pellin bei einer schwachen Erfindung ertappt zu haben. Er behauptet nämlich, an jenem Abend seien für die Zürcher Kultband «Les Sauterelles», die kurzfristig abgesagt habe, die «Deep Purple» aufgetreten. Aber Pellin, diese englische Starformation spielte doch in einer ganz anderen Liga! Und dann findet man in einer Besprechung des Konzerts in der Festhalle, das es tatsächlich gegeben hat, den Satz: «Die ‘Deep Purple’ überzeugten eher mit ihren Klängen denn mit ihrer Show.» (Bund, 23.9.1968)

livings live
Die «Livings» auf der Bühne der Tanzdiele Matte. (Foto: www.sams-collection.ch)

Mit seinem Vexierspiel aus Fakten und Erfindungen bietet der Autor beste Unterhaltung. Zwar schafft er es nicht ganz, seine Geschichte «in drei oder fünf Minuten» zu erzählen. Aber mehr als zwei bis drei Stunden braucht man nicht, um diesen Rocksong aus Interviews statt Strophen reinzuziehen. Übrigens übernimmt der Autor keine Haftung, falls jemand nach der Lektüre auf der Suche nach einem freieren Leben in seiner Wohnung die Stühle zu zerdeppern beginnt.

Elio Pellin: Wilder Beat. Wilde Zeiten. Die Geschichte der Silver Biscuits. Ein Interview-Kurzroman, Bern und Wien (Songdog-Verlag) 2021, 81 Seiten (96×148 mm), 14 Franken.