Bern swingt

von Jonas Ryser 21. Februar 2014

An einem Wochenende über zwanzig Stunden lang einen Tanz aus den 1920er Jahren zu tanzen, mag verrückt klingen. Viele haben es dieses Wochenende in Bern getan – am grössten Swing-Tanzanlass der Schweiz.

Der Lindy Hop, ein Paartanz aus den späten 20er Jahren, erlebt in Europa und auch in der Schweiz ein Revival. Am Wochenende fand in Bern das grösste jährliche Treffen der Schweiz statt: Über 600 Tänzerinnen und Tänzer aus zehn Ländern trafen sich zum «Leapin’ Lindy 2014». Wer einen «full pass» kaufte, besuchte gut zwölf Stunden Unterricht und tanzte von Donnerstag bis Sonntag an vier Partys zu Swing-Musik.

Für viele Teilnehmende war die «Big Swing Night» am Samstagabend das Highlight des Anlasses. Über 600 Tänzerinnen und Tänzer tanzten zur Musik einer Bigband aus Frankreich bis spät in die Nacht. Wer am Samstagabend den grossen Saal des Berner Kulturcasinos betrat, konnte das Gefühl bekommen, in einer anderen Zeit gelandet zu sein: Die meisten Tänzerinnen und Tänzer trugen Kleidung aus vergangener Zeit, die Musik erinnerte an alte Filme. Der ehrwürdige Saal gab dem Eindruck noch den letzten Schliff: 1909 eröffnet, stammt er aus einer ähnlichen Zeit wie die Musik, zu der getanzt wurde.

Von weit her angereist

In den inzwischen elf Jahren seines Bestehens hat «Leapin’ Lindy» internationale Bekanntheit erlangt, was sich daran zeigt, dass Leute von weit her anreisen, um teilzunehmen. Hätte er nicht seinen Flug verpasst, wäre ein Teilnehmer eigens aus Australien angereist. Der Anlass in Bern sei zwar gross, aber trotzdem sei die Atmosphäre sehr familiär, sagt ein Teilnehmer aus Grenoble in Frankreich. Er schätze die Warmherzigkeit der Leute hier sehr.

«Wir setzen auf Qualität vor Quantität»

Matthias Raaflaub

Das Organisationsteam legt grossen Wert auf die Entstehung der familiären Atmosphäre, sagt Matthias Raaflaub, einer der Organisatoren des Anlasses: «Wir setzen auf Qualität vor Quantität». Deswegen, und um die familiäre Atmosphäre bewahren zu können, wolle man nicht weiter wachsen, auch wenn die Kurse ausgebucht waren und nicht alle Personen auf den Wartelisten berücksichtigt werden konnten. Sehr viel wachsen könnte «Leapin’ Lindy» sowieso nicht mehr, glaubt Raaflaub: «Weil die Kosten in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr hoch sind, ist Leapin Lindy im internationalen Vergleich nur begrenzt konkurrenzfähig». Zumindest für die Übernachtung mussten die Gäste von auswärts allerdings nichts bezahlen: Die Berner Tänzerinnen und Tänzer brachten die Leute bei sich zuhause unter.

Bern swingt das ganze Jahr

Swing-Partys und Lindy-Hop-Kurse finden in Bern das ganze Jahr über statt. Kurse gibt es von Montag bis Donnerstag jeden Tag, Swing-Musik mit Tanzgelegenheit mindestens einmal pro Woche. Die Berner Swing-Szene organisiert sich im Verein «Swingmachine Bern», ein Zusammenschluss von Leuten, die, so die Webseite des Vereins, «Freude am Tanz und die Bereitschaft an Anlässen mitzuhelfen» mitbringen. Seit eine kleine Gruppe den Verein 2004 gegründet hat, ist er stetig gewachsen. Heute zählt er rund 90 Mitglieder und jedes Jahr kommen etwa zehn weitere dazu, sagt Michael Rosin, der Präsident des Vereins.

«Es macht Spass und die Freude der Tänzerinnen und Tänzer legt immer wieder ungeahnte Energiereserven frei, auch spät am Abend.»

Michael Rosin

Auch der Vereinspräsident gibt Tanzkurse, ein schönes Hobby mit dem «netten Nebeneffekt», dass dabei etwas Geld hereinkomme, sagt er. Nach einem Arbeitstag als Lehrer nochmal drei Stunden lang Lindy Hop zu unterrichten, sei zwar manchmal anstrengend, aber trotzdem lohnend: «Es macht Spass und die Freude der Tänzerinnen und Tänzer legt immer wieder ungeahnte Energiereserven frei, auch spät am Abend.»

Die Szene wächst

Nicht nur die Kurse am Tanzanlass dieses Wochenende waren ausgebucht, auch die 14 verschiedenen Kurse, die in Bern jede Woche angeboten werden, sind jeweils gut besucht. Beim einstündigen «Crashkurs» für Anfänger, der jeden Monat im Progr stattfindet, mussten sogar schon Leute abgewiesen werden – für mehr als 40 Tanzpaare ist der Raum zu klein. Diese regelmässigen rund einstündigen Einsteigerkurse sind ein wichtiger Grund für das stetige Wachsen der Szene. Eine kleine, nicht repräsentative Umfrage unter Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Tanzanlasses am Wochenende ergab, dass fast alle ihre erste Begegnung mit Lindy Hop in einem dieser Kurse hatten. Die meisten wurden von Freunden überredet reinzuschauen und sind dann hängen geblieben.

Woher kommt die Faszination für diesen Tanzstil und eine Musik, die heute kaum mehr am Radio gespielt wird? Vereinspräsident Rosin kann nur für sich selber sprechen: Er interessiert sich generell für Geschichte und damit auch für die Zeit, in der Swing und Lindy Hop entstanden sind. Von der Faszination für diese Zeit erzählt auch eine Teilnehmerin des Kurses: Ihr Vater hat ihr Filme aus den 1940er- und frühen 50er Jahren gezeigt. Sie mochte die Musik, die in diesen Filmen eine wichtige Rolle spielte. Als sie 25 Jahre später erfuhr, dass es zu dieser Musik einen Tanz gab, war klar, dass sie ihn lernen wollte.

Vergnügen in der Wirtschaftskrise

Die Geschichte des Lindy Hop beginnt in den USA, in der Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929. Das Geld war knapp und reichte nicht für teure Freizeitbeschäftigungen. Wer etwas Geld übrig hatte, ging ins Kino, wo viele Hollywoodstreifen mit Tanzszenen gezeigt wurden. Allein eines der damals bekanntesten Tanzpaare, Fred Astaire und Ginger Rogers, tanzte zwischen 1922 und 1939 in neun grossen Hollywoodfilmen.

Auch das Radio half bei der Verbreitung: Die meisten US-Haushalte besassen 1940 ein Radio, auch das eine günstige Variante, die Freizeit zu verbringen. Der grösste Teil der Sendezeit wurde mit Tanzmusik belegt. Gefördert von Kino und Radio wurde Tanzen zur beliebten Freizeitbeschäftigung: Es war nicht teuer und half dabei, die finanziellen Sorgen zu vergessen.

Viele Figuren des Lindy Hop entstanden im Savoy Ballroom im New Yorker Viertel Harlem. Der Savoy Ballroom, zusammen gegründet von Schwarzen und Weissen, war einer der ersten Orte in Land, in dem man sich ohne Rassentrennung in der Öffentlichkeit treffen und vergnügen konnte. Im Savoy seien die Tänzer nach ihren Fähigkeiten auf der Tanzfläche beurteilt worden, nicht nach ihrer Hautfarbe, wird Frankie Manning, einer der bekanntesten Lindy Hop-Tänzer, zitiert. So war Lindy Hop immer auch ein Tanz der Schwarzen Minderheiten.

Später entstanden aus dem Lindy Hop die Tänze Jive, Boogie Woogie und Rock’n’Roll. Swing-Musik verlor mit dem Beginn des zweiten Weltkrieges an Verbreitung, als in den USA viele Bands auseinanderbrachen, weil ihre Mitglieder in den Militärdienst eingezogen wurden.

Das grosse Revival

In den 1980er Jahren begannen in den USA, England und Schweden einige Tänzer Lindy Hop aus den alten Filmen zu rekonstruieren. Sie reisten dazu auch in die USA, wo sie nach den Tänzern aus den Filmen suchten. Sie fanden einige der alten Tänzer und begannen von ihnen zu lernen. Besonders aktiv war eine Gruppe von Schweden, die Tänzer aus den USA nach Europa einlud und dort im kleinen Dorf Herräng ein Tanzcamp veranstaltete. Ein Tanzcamp, das auch heute noch jeden Sommer stattfindet, fünf Wochen lang dauert und über 1200 Leute anzieht. 1998 verhalf ein Werbespot der Firma GAP dem Tanzstil zu einem Popularitätsschub in den USA.

In der Schweiz starteten die ersten Kurse im Jahr 1991, erzählt Stephan Joller, der heute in Basel unterrichtet und 1992 seinen ersten Kurs in Lindy Hop besuchte. Damals kamen Lehrer aus England für ein Wochenende in die Schweiz. Richtig Fuss gefasst habe Lindy Hop in der Schweiz 1993/94, zuerst in Zürich, dann verbreitete es sich über die ganze Schweiz. In den letzten zwei Jahren habe es nochmals einen Boom gegeben, sagt Joller, «die Klassen sind voll».

Es gibt sicherlich verschiedene Gründe, weshalb die Begeisterung für Lindy Hop stetig zunimmt. «Es macht einfach Spass», sagt eine Teilnehmerin. Swingmachine-Präsident Michael Rosin: «Viele Tänzerinnen und Tänzer schätzen das Lockere am Lindy Hop». So wird, anders als bei anderen Tanzstilen, Improvisation durchaus gerne gesehen. Andere geniessen auch die Gelegenheit, neue Leute kennenzulernen: Da man üblicherweise nach zwei Liedern den Partner wechselt, trifft man automatisch immer wieder auf neue Gesichter. Oder wie die deutsche «taz» schreibt: «Welcher Mann hat schon an einem Abend zwanzig oder dreissig Frauen im Arm?».