In seinem preisgekrönten Erstlingswerk «Nonno spricht» erzählt der in Münsingen geborene Halbitaliener Patric Marino von einem Ferien-Italien mit Feigen, Olivenhainen, Meer und Mafia. Im Interview mit Journal B wirft der junge Schriftsteller einen weitaus weniger literarischen Blick auf das aktuelle Italien und seine Patt-Politik aber auch auf sein Bern, das «ohne den Bärengraben tot ist».
Patric, du bist in der Schweiz geboren und hast italienische Wurzeln. Darfst du in Italien wählen?
Patric Marino:
Ich dürfte. Dieses Mal hat es aber nicht gereicht, weil sie die Wahlunterlagen zu spät geschickt haben.
Wen hättest du gewählt?
Bersani.
Warum?
Das ist einfach, ich erkläre es per Ausschlussverfahren. Berlusconi hätte ich ganz klar nicht gewählt. Weil er jetzt 20 Jahre lang an der Macht war und es einen Wechsel braucht. Berlusconi steht immer wieder auf und macht stets das Gleiche. Man könnte ihn mit einer Fliege vergleichen, die man wegscheucht, aber sie kommt immer wieder zurück.
Grillo fiel also auch durch deinen Wahlfilter?
Ja. Ich verstehe, dass er viele Sympathien einheimst, aber der Inhalt hinter seinen Parolen fehlt. Protesthaltung ist gut, aber es fehlt ein politisches Programm. Und genau das braucht Italien jetzt. Darum hätte ich mich für Bersani entschieden. Monti zu wählen, wäre auf das Gleiche hinausgelaufen.
Wie war deine erste Reaktion, nachdem das Wahlergebnis feststand?
Ich habe gelacht. Aber nicht vor Glück.
Und wie erklärst du dir Berlusconis erneuten Erfolg?
«Die Italiener nehmen Politik weniger ernst, da ist mehr Humor im Spiel.»
Patric Marino, Schriftsteller
Man hat es ja kommen sehen, aber eine Erklärung? Das ist schwierig. Ich denke, Bersani wirkt nach aussen einfach zu schwach, er taugt nicht viel als Figur. Berlusconi und Grillo haben das Talent, populistisch aufzutreten und generieren darüber viele Stimmen. Am Schluss geht es um das Charisma.
Ist das tatsächlich ein Teil der italienischen Wahlmentalität?
Die Italiener nehmen Politik weniger ernst, da ist mehr Humor im Spiel. Wenn wir in der Familie über Politik reden, werden viele Witze gemacht. Jeder kommt unter die Räder, auch Bersani. Meine Nonna etwa scherzte, man sollte alle – Berlusconi, Grillo, Bersani und Monti – in einen Hubschrauber packen und sie in den Ätna werfen. Aber eben, einerseits stelle ich Grillo als Clown dar, andererseits belache ich das Ganze selbst auch.
Wie also ist Italien aus deiner Perspektive als Schweizer?
Es ist ein Land der Unterschiede. Nehmen wir das Beispiel Nord-Süd. Ob im Denken, in der Sprache, in der Lebensart oder punkto Wirtschaft, Italien wird von einem riesigen Gefälle zwischen Nord und Süd bestimmt. Deshalb ist es meiner Meinung nach derart schwierig, ein gesamthaftes Italien zu bilden. Ich könnte mir deswegen nicht vorstellen, dort zu leben.
Dennoch, deine Verbundenheit zu Italien ist gross. Man merkt das in deinem Erstlingswerk «Nonno spricht».
Das liegt daran, dass ich Italien vor allem dann erlebe, wenn ich die Ferien dort verbringe. Ich liebe die italienische Lebensart, die Einfachheit des Lebens. Das gemeinsame Essen, Siesta machen, Kaffee trinken.
Fehlt dir das in der Schweiz?
Hier in der Schweiz vermisse ich vor allem den Zusammenhalt. Auf der anderen Seite würde es mir bald zu eng werden, wenn ich mit drei Generationen unter einem Dach leben müsste. Dort ist das gang und gäbe, mir wäre das auf Dauer zu anstrengend.
Wie ist die Schweiz aus deiner Sicht als Halbitaliener?
«Hier in der Schweiz vermisse ich vor allem den Zusammenhalt.»
Patric Marino, Schriftsteller
Wenn ich einen Staat machen müsste, dann würde ich eine zweite Schweiz erschaffen. Es gibt hier alles zum Leben, ausser das Meer. Hier hat man dafür freien Entscheidungsspielraum, man hat die Wahl. In Italien muss man das Leben oft so nehmen, wie es kommt.
Wo ist für dich Zuhause?
In Bern, zumindest seit Studienzeiten. Ich bin in Münsingen geboren und aufgewachsen, in der Stadt Bern fühle ich mich zu Hause. Aber es gibt schon eine zweite, eine italienische Seele.
Wie kommt diese zum Ausdruck?
Zum Beispiel, wenn ich trotz wenig frühlingshafter Temperaturen im Februar draussen in der Sonne zu Mittag esse. Oder darin, dass ich jeden Tag zwei bis drei Mal Kaffee trinken gehe. Solche Klischees zeigen sich aber erst im direkten Kontakt mit der anderen Kultur. In Italien falle ich auf, wenn ich pünktlich bin und mich darüber ärgere, dass mein Zio eine Stunde zu spät kommt.
Reden wir über dein Metier: Die Schriftstellerei. Macht es dir der Umstand – dass du in der Schweiz aufgewachsen bist – einfach, dich ernsthaft mit dem Schreiben zu beschäftigen?
Das ist schwierig zu beantworten. Ich glaube kaum, dass ich diesen Weg nur gehe, weil ich mich hier in der Schweiz wirtschaftlich abgesichert fühle. Wäre ich in Italien aufgewachsen, würde ich vielleicht erst recht auf die Schriftstellerei setzen. Manchmal ist das dort die einzige Chance, auf etwas zu setzen, in dem man besonders gut ist. Fussball oder Schreiben. Es ist ein Entscheid von viel existenziellerer Bedeutung.
In Bern herrscht generell ein ausgesprochen kreatives und selbstständiges Klima. Viele junge Leute haben den Mut, etwas Eigenes aufzubauen. Angefangen beim eigenen Café, Club oder Modelabel.
«Bern ist klein und kann durch den kleinsten Input in Bewegung geraten.»
Patric Marino, Schriftsteller
Das stimmt. In Kalabrien – scheint mir – fehlt dieser kreative Flow bei jungen Leuten, wie er in Bern und in der ganzen Schweiz stark spürbar ist. Der Unterschied liegt da wahrscheinlich tatsächlich im Freiraum, der uns hier gegeben wird. Bereits in der Schule wird man auf Händen getragen.
Man wird hier stärker gefördert?
Absolut.
Du als Wort-Jongleur, wie würdest du einem Italiener in maximal fünf Worten beschreiben, wie deine Heimat Bern ist?
Ohne Bärengraben ist Bern tot.
Will meinen?
Das hat meine Zia gesagt, als ich ihr erzählt habe, dass der Bärengraben nach langem Hin und Her nun ein Bärenpark ist. Ich empfinde Bern oft so, als eine Stadt mit ganz vielen Rädchen, die nur im Gesamten arbeiten. Und ist eines davon blockiert, ist die ganze Stadt blockiert.
Das musst du näher erklären.
Bern ist klein und kann durch den kleinsten Input in Bewegung geraten. Wenn Du zum Beispiel als Künstler einen Input gibst, dann dreht sich plötzlich alles um deine Person. Man gerät in einen Strudel, der einen ganz hoch hinauf katapultieren kann oder eben auch nach unten ziehen kann. Bern ist sehr formbar. Ich mache mir gerne mein eigenes Bern.
Und wie sieht das aus, dein eigenes Bern?
Es ist ein zusammengerücktes Bern, mit kleinem Radius, innerhalb dessen es viele Cafés und Kulturorte gibt. Viele Orte, wo man draussen entspannen kann, ein Bern mit der Aare, die rundherum fliesst.
Wenn du sagst, Bern ist formbar, was gilt es deiner Meinung nach zu formen?
«Wenn du drei Mal an Lesungen aufgetreten bist, dann kennst du schon alle Literaturinteressier- te in Bern.»
Patric Marino, Schriftsteller
Die Form hat mit den Menschen zu tun. Man kennt sich schnell, was positiv ist. Gleichzeitig aber ist es ein Klumpen. Wenn du drei Mal an Lesungen aufgetreten bist, dann kennst du schon alle Literaturinteressierte in Bern. Das kann hilfreich sein, aber manchmal nervt es. Und dann würde ich gern ein paar Leute aus dieser formbaren Masse herausnehmen und auswechseln.
Ist es zu wenig in Bewegung?
Es ist einfach eine langsame, gemütliche Bewegung, besonders in der Literaturszene. Man könnte mehr bewegen, und es wäre an uns Künstlern, für Treibstoff zu sorgen.
Wie bringst du Bern in Bewegung?
Im Rahmen des Literaturbüros zum Beispiel veranstalten wir ab und an einen Textkiosk.
Einen Kiosk für Texte?
Man kann sich Texte wünschen und wir schreiben sie auf der Schreibmaschine. Etwa einen Liebesbrief oder ein Gedicht. Es braucht einfach mehr junge Literaturinteressierte, die öfter in die Veranstalterrolle schlüpfen wollen. Wenn es nämlich die Grossen veranstalten, etwa die Kulturinstitutionen, die Stadt oder gar der Bund, dann sind es doch meist eher einseitige Standard-Veranstaltungen.
Der Berner Literaturszene fehlt es also an alternativen Veranstaltungen?
Alles, was da ist, hat seine Berechtigung. Aber ich versuche noch mehr Input zu geben, Bern in Richtung Vielfalt zu formen. Im Sommer etwa trifft man mich dann sicher mal mit meiner Schreibmaschine auf der Strasse an und darf sich Wortgewandtes wünschen. Keine grosse Publikumsveranstaltung, aber auch keine Nullachtfünfzehn-Kultur. Frische Texte für Bern.