«Bern ist eine Stadt der kurzen Wege»

von Rita Jost 16. Dezember 2021

Winterserie «So wohnt Bern» – In der Stadt Bern wird gebaut wie nie zuvor. Könnte man meinen. Aber rekordverdächtig ist die gegenwärtige Wohnbautätigkeit nicht. Ein Rückblick auf 150 Jahre Wohnungsbau in Bern. Im Interview mit der Sozialhistorikerin Anna Bähler.

Anna Bähler, wir führen dieses Interview in der Siedlung Baumgarten, wo wir beide wohnen und arbeiten. Vor 30 Jahren war das Gebiet hier unüberbautes Ackerland. Jetzt wohnen und arbeiten hier rund 600 Leute. Typisch für die Stadtentwicklung der letzten 50 Jahre?

Anna Bähler: Ja, das steht stellvertretend für die letzten 150 Jahre Bern, sogar für die letzten 170 Jahre. In der Mitte des vorletzten Jahrhunderts wohnten Stadtbernerinnen und -berner noch praktisch ausschliesslich innerhalb der Aareschleife. Mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz setzte um 1860 ein starkes Bevölkerungswachstum ein. Die heutigen Aussenquartiere wurden aber erst nach dem Bau der Hochbrücken ab ungefähr 1860 überbaut. Damals entstehen die Lorraine, das Kirchenfeld, das Breitenrainquartier und nordwestlich des Bahnhofs – ohne Hochbrücke – die Längasse.

«Bern war eine der ersten Schweizer Städte, die Sozialwohnungen baute», sagt Sozialhistorikerin Anna Bähler.

Wie muss man sich das Wohnen dort damals vorstellen?

Nehmen wir beispielsweise das Hallerhaus in der mittleren Länggasse. Das war eine vierstöckige Mietkaserne mit 60 Einzimmerwohnungen (sie steht heute nicht mehr). Auf jedem Stock hatte es Gemeinschaftsaborte, das Wasser holten die Bewohnerinnen und Bewohner aus Grundwasserbrunnen neben dem Haus. In all diesen kleinen Einheiten wohnten 1850 durchschnittlich gut fünf Personen, oft noch mit Tieren: Geissen, Hühnern usw. Man nannte dieses Haus auch «Wänteleburg», weil sich da offenbar die Wanzen tummelten. Die hygienischen Verhältnisse müssen schlimm gewesen sein.

Wohnten in den Aussenquartieren anfänglich vor allem die Armen?

Ja, ein Professor von mir sagte es so: Die Reichen wohnten dort, wo sie wollen. Die Armen dort, wo sie müssen. Das ist wohl auch heute noch nicht viel anders. Die Reichen wohnen sonnseitig, die Armen schattseitig. Später dann wohnen die Arbeiter vor allem in der Nähe der Fabriken. Die Häuser in der Länggasse, aber auch in der Felsenau rund um die ehemalige Spinnerei sind gute Beispiele hiefür. Es gab jedoch auch Aussenquartiere, die speziell für die wohlhabenden Familien geplant und gebaut wurden, wie im Kirchenfeld oder in der Schosshalde.

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Was tat die Regierung für die Verbesserung der Wohnverhältnisse der armen Bevölkerung?

Bern war eine der ersten Schweizer Städte, die  Sozialwohnungen baute, und zwar schon ab 1889.  Im Wyler und in Ausserholligen etwa, und etwas später auch im Murifeld. In der Matte war die prekäre Wohnsituation sogar bereits ab 1860 erkannt worden. Es gibt eine Wohnungsumfrage aus dem Jahr 1896, die zeigt, dass die meisten Wohnungen der Unterschichtsquartiere feucht und schattig waren, ohne fliessendes Wasser und Toiletten. Und die Zimmer waren völlig überbelegt. Betten wurden oft an so genannte «Schlafgänger» vermietet, also an Schichtarbeiter, die nur zum Schlafen kamen. So konnte ein Bett mehrmals pro Tag etwas Geld einbringen.

Nach dem 1. Weltkrieg entsteht dann im Weissenbühl die erste Genossenschaftssiedlung. Die Eisenbahnergewerkschaft baut Häuser für ihre Mitglieder. Griffen da Arbeitnehmer zur Selbsthilfe?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wächst die Bundesverwaltung, aber auch das Verkehrs- und das Kommunikationsnetz. Viele SBB- und PTT-Angestellte ziehen nach Bern. Die Einwohnerzahl der Stadt verdreifachte sich innert zwei Generationen. Die Stadtpolitiker gerieten unter Druck. Denn der fehlende Wohnraum wurde nun auch ein Problem der Mittelschicht, weil Schulhäuser fehlten. Diese wurden zeitweise in Notwohnungen umfunktioniert. In dieser Zeit entstanden dann auch einige repräsentative Häuserzeilen für den gehobenen Mittelstand, etwa im Monbijouquartier, aber auch im Breitenrain und in der Länggasse. Interessant an diesen Häusern ist, dass sie immer mit der Front zur Strasse gebaut wurden. Man wollte ja repräsentieren. Erst später, in den Fünzigerjahren baut man Blöcke quer zur Strasse mit Grünflächen dazwischen für Kinderspielplätze und Platz für die Wäscheleinen. Schöne Beispiele dafür findet man heute noch im Wankdorfquartier. Das Motto hiess «Luft! Licht! Sonne!»

Den grössten Bauboom erlebte Bern in den 60er und 70-er-Jahren mit den Neubauten im Westen (Gäbelbach, Tscharnergut) (Foto: Bildarchiv ETH)


Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg war ja die Zeit des ersten Baubooms.

Ja, im Westen von Bern entstanden zum Teil schon in der Zwischenkriegszeit die grossen Blocküberbauungen und die Hochhäuser: Tscharnergut, Gäbelbach, Fellergut, Schwabgut. Ein Glück für die Stadt war, dass damals viel Land in den Händen der Burger war. Grosse Flächen wurden als Einheit geplant und überbaut. Das war damals eine moderne Wohnform, von Corbusier inspiriert. Und man plante nicht nur Wohnraum, sondern gleichzeitig auch Einkaufsläden, Schulen und Kinderkrippen, was fortschrittlich war.

Kann man sagen, dass die jeweiligen Bedürfnisse der Bewohner*innen die Treiber der Wohnbaupolitik in der Stadt waren?

Ja, und natürlich auch die Entwicklung des öffentlichen Verkehrs und der Motorisierung. Die Stadt entwickelte sich entlang der Tram- und Buslinien. Und als ab den Siebzigerjahren immer mehr Leute ein Auto hatten, wurden sie noch mobiler und konnten sich also auch ein Einfamilienhaus ausserhalb der Stadt leisten. Die Agglomerationen wuchsen. Mit den bekannten Folgeproblemen für die Stadt.

Wohnungsbau, immer auch ein Politikum. Demonstranten fordern in den Sechzigerjahren günstige Wohnungen. (Foto: zvg)


Und jetzt befeuert die Pandemie neuerdings die Wohnpolitik. Alle wollen grössere Wohnungen…

Nicht erst seit Homeoffice und Homeschooling brauchen Familien mehr Platz. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren lebten mehrköpfige Familien in Dreizimmerwohnungen. Das war damals der Standard. Und noch heute gibt es in Bern zahlenmässig am meisten Dreizimmerwohnungen. Aber die Ansprüche steigen stetig. Heute «brauchen» alle Kinder ein eigenes Zimmer, zudem will man einen Arbeitsplatz für die Eltern. Zahlenmässig wächst Bern ja seit 1962 nicht mehr. Zwischenzeitlich nahm die Bewohnerzahl gar ab. Seit dem Jahr 2000 wächst sie wieder. Aber der Haupttreiber ist der Platzanspruch der Menschen.

Stichwort Gentrifizierung: auch in Bern ein Problem?

Nicht ganz so ein grosses wie andernorts. Aber wir kennen den «Klassenkampf» auch. In der Lorraine zum Beispiel ganz ausgeprägt. Die linksgrüne Szene hat das Quartier übernommen. Wohnen in der Lorraine wird attraktiv, Junge ziehen ein, die Häuser werden saniert und damit für die Unterschicht unbezahlbar. Gerade Migrant*innen leiden darunter. Sie können heute praktisch nur noch in Bümpliz bezahlbaren Wohnraum finden. Da wohnt heute rund ein Achtel der Stadtbevölkerung, in einem Gebiet, das noch bis 1920 ein beschauliches Bauerndorf war.

Was hat Bern wohnpolitisch gut gemacht und was weniger?

Gut ist, dass in den letzten Jahren mehr verdichtet wird, und dass mehr genossenschaftliche Wohnungen entstehen. Ein Problem ist, dass nun die günstigen Wohnblöcke aus den Sechzigerjahren saniert werden und damit teurer werden. Und: es gibt zu wenig grosse Wohnungen. Besser geworden ist die Verkehrssituation. Die Velowege werden immer sicherer. Bern ist eine Stadt der kurzen Wege. Das macht sie attraktiv. Da nehme ich persönlich auch die Verdichtung gerne in Kauf. Ich fühle mich nicht eingeengt. Die dichtbebaute Siedlung, in der ich wohne, gibt mir sogar eher ein Gefühl von Geborgenheit.  Fast wie in einer italienischen Altstadt.