Jakob Messerli, der Direktor des Historischen Museums, eröffnete die Medienkonferenz zur neuen Ausstellung mit einem bedenkenswerten Bonmot: «Nichts war immer schon da. Alles, was ist, hat einen Grund, dass es ist und dass es so ist, wie es ist.» Wofür würde das mehr gelten als für eine Stadt, in der noch das unscheinbarste Mauerstück Resultat von Eigentümerwillen, Finanzkraft, Vorschriften, Planung, Maurerfleiss und nicht zuletzt der Zeit ist, die darüber ging? Es gehe darum, «Verständnis für das Gewordensein des Bestehenden» zu schaffen, ergänzte er. Wie könnte man das bei einer Stadt augenfälliger tun, als indem man sie so darstellt, dass sie plastisch auf einen Blick erfassbar wird? Das ist die Faszination eines Stadtmodells.
Ein Stadtfragment aus Gips
Das historische Museum verfügt über ein Modell, das die Stadt Bern um 1800 im Massstab 1:500 zeigt. Die Ausstellung «Endlich diese Übersicht» stellt ihm im grossen Saal des ersten Stocks im gleichen Massstab die heutige Situation gegenüber: Auf dem Boden sind Aareverlauf und die Wälder an den Stadtgrenzen angedeutet. An geografisch richtiger Stelle und in topografisch richtiger Höhe stehen auf dieser angedeuteten Karte verteilt 25 Gipsmodelle, die für konkrete Planungs- und Bauprojekte hergestellt worden sind: von der Überbauung Schönberg Ost bis zum Bahnhof Bümpliz Nord.
Diese Inszenierung eines Stadtfragments lässt erahnen, wie gross Bern im Vergleich zu 1800 geworden ist. Kommt das Modell der damaligen Stadt mit wenigen Quadratmetern aus, bedeckt die heutige eine Fläche von mehr als zehn auf zwanzig Meter. Ergänzt wird das Herzstück der Ausstellung mit einem virtuellen, interaktiven 3D-Stadtrundgang; mit historischen und aktuellen zweidimensionalen Stadtdarstellungen; mit Modellen des Inselspitals aus verschiedener Zeit, die ein Stück Stadtgeschichte spiegeln; mit dem Völlger-Panorama, einer 360 Grad-Fotografie aus dem Jahr 1894, aufgenommen vom Münsterturm – und mit der Möglichkeit, aus dem «Belvedere», dem Turmzimmer des Historischen Museums, die Südkulisse der Altstadt als Live-Panorama zu betrachten.
Im Hauptraum der Ausstellung steht zudem als Hundertvierzigstel eines vollständigen Stadtmodells der Entwicklungsschwerpunkt Ausserholligen im Masstab 1:1000. Der Geländeausschnitt ist aus einer Platte herausgefräst, die Gebäude wurden mit einem 3D-Drucker «geplottet» und an der richtigen Stelle eingesetzt. Das vollständige Modell der heutigen Stadt würde aus 140 solchen «Kacheln» bestehen (Flächenbedarf insgesamt: 9 mal 15 Meter). Veränderungen im Stadtbild könnten durch Aktualisierung der elektronischen Daten einzelner Kacheln sofort nachvollzogen werden.
Ein Stadtmodell für viele Bedürfnisse
Für die Architektin und Stadtplanerin Jeanette Beck vom Architekturforum Bern ist die Ausstellung als Anregung zu verstehen: «Das Fragment soll einen ersten Eindruck vermitteln, was ein grossflächiges Modell leisten könnte.» Es könnte, führt sie aus, für ganz verschiedene Bedürfnisse interessant sein: für die professionelle Raumplanungs-, Städtebau- und Architekturdebatte ebenso wie für den Unterricht in den Schulen, als Visualisierungshilfe vor Abstimmungen über städtische Planungsvorlagen oder als Attraktion für das touristische Publikum.
«Es wäre zu wünschen», sagt Beck, «dass sich Bern aus Liebe zur Planung und zur Baukultur in der Hauptstadt der Schweiz an einem zentralen und öffentlich zugänglichen Ort ein solches Modell leistet.» In diesem Zusammenhang erinnert sie daran, was der dänische Stadtplaner Jan Gehl anlässlich seines Bern-Besuchs letzthin gesagt hat: Eigentlich sollte Bern, wie andere Hauptstädte auch, eine Vorbildfunktion in der Stadtentwicklung einnehmen.
An der Medienkonferenz folgten dann die routinierten Nullachtfünfzehn-Schurni-Fragen, die zeigten, wie nahe an das realpolitisch Denkbare sich das Historische Museum mit seiner neuen Ausstellung gewagt hat. Was würde ein solches Stadtmodell kosten? Beck: «Zwischen einer halben und einer ganzen Million.» Wer soll das bezahlen? Beck: «Schön wäre eine Kombination von Privaten und öffentlicher Hand.» Wozu braucht Bern ein solches Stadtmodell? Beck: «Die Ressource Boden wird knapp. Es wird eng, es wird dichter. Wir müssen uns genau mit dem bestehenden Baukörper der Stadt und den Bauzonen auseinandersetzen, um zu erkennen, wie sich dieser Raum weiterentwickeln kann. Dazu ist das Stadtmodell ein sehr wertvolles Instrument.»
Und wo soll ein solches Modell – zentral und öffentlich zugänglich – stehen? Beck: «Das hängt von den Partnern ab, die entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen bereit sind.» Man fühlt sich zum mitdenken eingeladen. Das Stadtmodell im Progr? Das Stadtmodell im Kunstmuseum? Das Stadtmodell in der Polizeiwache Waisenhaus? Das Stadtmodell in einem zweistöckigen Pavillon auf der Schützenmatte (inkl. Debattierraum und Cafeteria im Parterre)? Oder das Stadtmodell in der Grossen Halle?
Wer wollte behaupten, «Endlich diese Übersicht» sei keine anregende Ausstellung?