Bekanntschaft mit einem Bänkli

von Anna Stüssi 5. Oktober 2021

An dieser Stelle ein Bänkli? Ist das ein Witz? Als ich probesitze, verändert sich schlagartig mein gewohnter Alltagsblick, fast so wie man das von Kunsterlebnissen erwartet. Täglich durcheile ich blind diesen randständigen Strassenabschnitt am runden Eck der Hallerstrasse, aber seine Eigentümlichkeit habe ich noch nie so wahrgenommen. Mein Blick hat jetzt Zeit, über eine ellenlange Hauswand zu spazieren. Klar, hier ist alles versprayt, das ist nichts Neues, das weiss man. Aber jetzt erkenne ich das Ausmass, kann die kurvigen Zacken und grellen Schattierungen der Tags so richtig anschauen und die mir verschlossenen Informationen erahnen. Ohne Malereien wäre die Wand ja auch wirklich farblos, eine düstere Rückwand, keine Eingangstüren, keine Begrünung, keine Utensilien der BewohnerInnen, nur Waschküchenfenster, vergittert, aus denen bisweilen eine Duftwolke entweicht. Davor die dicke Reihe geparkter Autos. Nur auf einmal mir im Rücken ein Zwitschern – es gibt ja Bäume hier! Und es rauscht aus dem Graben, wo der Verkehr rollt. Wenn ich die Sitzbank drehen könnte, wären Eiger, Mönch und Jungfrau zwischen den Zweigen zu erraten.

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Doch was sollen mir diese alten Bekannten. Der Gefängnisblick vom Büsserbänkli (oder Museumsbänkli?) aus an die Wand interessiert mich immer mehr. Überhaupt der Standort des Sitzortes. Hier ist kein Boulevard mit Geschäften und Cafés à la Mittelstrasse, kein Park oder Pärklein, keine Haltestelle, keine offiziell als schön zu bewertende Aussicht. Aber vielleicht ist ja gerade die Abwesenheit all dieser Merkmale der Witz des Standorts? Eine clevere Urbanistin stellt ein Bänkli auf, um einen schlafenden Un-Ort zu wecken? Sollen die Leute von ihren schattigen Balkonen runterkommen und sich ‚begegnen’? Immerhin habe ich schon einen Vater auf Baby-Spaziergang angelächelt, einem Fahrlehrer mit Handzeichen ein Kompliment gemacht fürs präzise Parkieren seiner Schülerin und mehrere Radfahrende beklatscht (allerdings ohne dass sie das wahrgenommen hätten) beim rasanten Einkurven in den Bierhübelistutz.

Weil es ja unwahrscheinlich ist, dass sich jemand zu mir setzt, das gilt als aufdringlich (Bänkli sind für coronakonformes Sitzen wie geschaffen), wende ich mich zum Abfalleimer links von mir und bemerke knapp dahinter den «Schwurstein». Das Relief der Schwurhand  ist unter Farbklecksen noch knapp zu erraten. Mir wird bewusst, dass ich an einer historisch markanten Stelle sitze, an einer Schmerzstelle geradezu. Markiert doch der Stein einen frühen behördlichen Perimeter, die Grenze, wo das «Gesindel», das der Stadt nicht mehr genehm war, ausgewiesen wurde und schwören musste, nie mehr zurückzukehren.

Auf welche Seite der Grenze gehöre ich Müssiggängerin? Und die Streunenden, Unfassbaren, die nachts ihre Zeichen setzen, während ich oben schlafe?

Ich sitze im Niemandsland, mit zweifelhafter Aussicht, aber mit einer Einsicht: Überall könnte man ihn markieren, den Kreuzungspunkt von städtischer Ordnung, Ver-Ordnung, und deren Störung.

PS: Das Bänkli erweist sich als beliebt. Leute mit beigestelltem Fahrrad machen hier Halt und starren ins Smartphone oder den aufgeklappten Laptop. Umgebung braucht es da keine.

(aus dem Länggassblatt Nr. 269. Mai 2021. Leicht verändert.)