Beim Namen nennen

von Christoph Reichenau 20. Juni 2022

Tausende Geflüchtete sterben jedes Jahr unterwegs, die meisten am oder auf dem Mittelmeer, für uns meist namen- und geschichtslos. Mit der Aktion «Beim Namen nennen» hat die offene Heiliggeistkirche ihrer gedacht in würdiger Form. Und dabei Gedanken in unterschiedlicher Richtung frei kreisen lassen.

Samstagnachmittag in der erhitzten Stadt. Unter dem Baldachin und am Loeb-Egge pulsiert das pralle Leben. Um die Heiliggeistkirche hängen an Holzgerüsten zehntausende weisse Stofffetzen mit den Namen Geflüchteter, bauschen sich im seltenen Wind, bilden eine Art Federkleid zu Ehren der Menschen, die auf der Flucht gestorben sind. «Beim Namen nennen» heissen am Flüchtlingstag mehrere Aktionen, die im Umfeld und im Innern der Kirche stattfinden.

Im Chor der Kirche wechseln sich alle halben Stunden Menschen ab dabei die Umstände vorzulesen, bei denen Menschen auf der Flucht zu Tode gekommen sind. 902 Tote waren es in den 76 Tagen vom 20. Juni bis 4. September 2018. Sie ertranken im Mittelmeer, im Grenzfluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei, sie nahmen sich das Leben in ausweglosen Situationen, sie starben bei Autounfällen. Es waren Babys, Frauen, auch schwangere, Jugendliche und Männer. Einige konnten mitsamt den Fluchtgründen identifiziert werden, von anderen fehlen Angaben zum Namen, zum Alter, zur geographischen Herkunft, zum Motiv für die Flucht.

(Foto: Nicolas Eggen)

Nur wenige hören sich im Rund des Chors an, was gelesen wird. Um viele Zuhörerinnen und Zuhörer geht es nicht. Wichtig ist, dass die Namen der Gestorbenen laut ausgesprochen und auf die Stoffzettel geschrieben werden. Es hat diese Menschen gegeben mit ihrem Namen, ihren Angehörigen, ihren Hoffnungen, ihrem Schicksal.

Wo keine Namen eruiert werden konnten, ist es wichtig, die Todesumstände so genau wie möglich zu beschreiben. Denn jeder dieser Tode ist eine direkte oder indirekte Folge der schlimmen Lebensverhältnisse am Herkunftsort, die oft keinen anderen Ausweg als die Flucht zulassen. Aber auch eine direkte oder indirekte Folge der europäischen Abwehr der Flüchtlinge, bei der auch die Schweiz mitmacht. Die Referendumsabstimmung vor wenigen Wochen über die Aufrüstung von Frontex hat gezeigt, wie breit verankert diese Abwehr in unserer Bevölkerung ist.

Eine Handvoll Menschen hat in der Heiliggeistkirche vorgelesen, wen die Abwehr trifft: Zwölf Menschen jeden Tag. Warum? Damit wir – wie es die lärmige Menge um die Heiliggeistkirche und die leeren Kirchenbänke deutlich machen – weitgehend unbehelligt von fremden Menschen das Leben führen können, an das wir uns gewöhnt und auf das wir glauben, ein Recht zu haben.

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Das ist zu harsch, ist ungerecht. Doch so bilden sich Gedanken, während man die langen Todeslisten vorliest. Hier soll nicht billig polemisiert werden aus einem Anlass, der dem Andenken an die Opfer einer dringend humanisierungsbedürftigen Flüchtlings- und Asylpolitik gewidmet ist. Doch ganz zähmen lassen sich die Gedanken in ihrem freien Flug nicht. Zum Glück. Denn nach dem Gedenken kommt der Alltag. Und damit der Tag politischer Aktion.

Wir in der Schweiz können und wollen es besser machen. Ein erster Schritt ist die positive, engagierte und würdevolle Aufnahme der Flüchtlinge aus der Ukraine. Sie zeigt uns, wie Menschen aufblühen und welche Kräfte sie trotz der prekären Umstände mobilisieren, um die Hilfe annehmen zu können und sich aktiv in dem Prozess des hier Ankommens einzubringen, initiativ zu sein und selbständig zu werden in einem fremden Land, ihrem neuen Zuhause, sei es auf Zeit oder auf Dauer.

Ein zweiter Schritt muss möglichst bald darin bestehen, dies alles auch mit jenen Flüchtlingen aus den zahlreichen anderen Kriegsgebieten der Welt anzupacken, die wir seit Jahren und noch immer primär abwehren, teils unter Todesfolge, und wenn dies misslingt in beschämender Weise behandeln und hinhalten.

(Foto: Nicolas Eggen)