400 sind es angeblich allein in der Stadt Bern, wie viele in der gesamten Schweiz, das weiss niemand so genau. Menschen ohne feste Bleibe, Abhängige, Sexarbeiterinnen, sie alle sind betroffen – weniger vom Virus, sagen sie, als von den Massnahmen, die der Bund bis auf Weiteres verhängt hat. Manche können nicht daheimbleiben, auch wenn sie es möchten; denn sie haben kein Zuhause. Weil alles zu hat und niemand unterwegs ist, fehlt vielen der Puder, das Geld, die Freier.
Dabei ist eigentlich vieles wie immer.
Eine Reportage von den Strassen Berns.
M., 49, ohne Arbeit, obdachlos
«Ich komme aus Rumänien, doch frag nicht, wie lange ich schon unterwegs bin. Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, ich bin müde, habe Schmerzen und ich bin oft einsam. Doch was soll ich erzählen? Meine Tage sehen immer gleich aus, ich gehe auf die Strasse, hocke mich hin, bettle, sehe die Menschen an mir vorbeihuschen und die Hunde auch. Ausser jetzt, da ist es leer, selbst am Bahnhof. Die Stunden werden noch länger. Nein, mit Drogen habe ich nichts am Hut, die würden mich umbringen. Ich will leben, trotz allem.»
Für sie ist Corona überall. La Prairie, geschichtsträchtiger Begegnungsort der Dreifaltigkeitspfarrei Bern mit einem Mittagstisch für Bedürftige: geschlossen wegen der Covid-19-Verordnung. Die Tafel «Tischlein deck dich»: eingestellt. Das Casa Marcello, stadtbekannte Beiz aller Junkies: chiuso. Die Bänke unterm Baldachin am Berner Bahnhof: weggeräumt oder eingezäunt. Die Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse bei der Lorrainebrücke: eine Warteschlange, Stress pur. Und so bleiben sie aussen vor.
N., 36, seit 20 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Zuerst nehmen wir Drogen, um uns wohlzufühlen, schon bald brauchen wir sie, damit es uns nicht die ganze Zeit Scheisse geht. So einfach ist das. Ich wurde süchtig, weil ich an meine eigenen Grenzen gehen wollte, immer weiter, immer mehr. Irgendwann kommt der freie Fall, ist ja klar. Ich war mal drei oder vier Jahre lang sauber, dann brauchte es einen halben Schnupf und alles war wie vorher. Wenn du einmal weisst, wie das ist – dieses Flash im Kopf, dieses warme Gefühl überall in dir –, du wirst es nie wieder vergessen könen. Und bist schneller wieder im Loch als dir lieb ist, glaub mir, das macht zack und du bist weg.»
«Das Leben auf der Strasse ist hart, jetzt sowieso. Seit der Corona-Pandemie ist weniger Geld da, die Leute können nicht mehr betteln, die Frauen haben keine Freier, aber Drogen brauchen sie trotzdem. Also nimmt der Stress zu. Du kannst niemandem trauen auf der Gasse, es denken alle nur an sich, jeder will dich austricksen. Ich hab genug davon, das verdirbt den Charakter und zieht dich runter. Wenn Corona vorüber ist, mach ich den Entzug.»
L., 35, ein Kind, seit 10 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Ich stehe hier und bettle, ich brauche 25 Franken am Tag, die Leute bringen mir manchmal Essen, sie drücken mir eine Dose Bier in die Hand, ein paar Zigis. Es gibt Zeiten, da hoffe ich auf ein Wunder, auf ein kleines wenigstens. Doch auch Wunder sind am andern Tag wieder verflogen. Heute Abend schlafe ich draussen, wo, das weiss ich noch nicht.»
Draussen, das kann heissen: in einem Park zwischen Stuhl und Bank, vor einer Garage, auf einer Treppe, im Gebüsch, unter der Kornhausbrücke. Dort, an einem Pfeiler, wird sich T., 38, seit zwanzig Jahren süchtig, auch diese Nacht in ein Fleece einwickeln. «Isch emu gäng öppis», kichert er, der keine fünfzig Kilo mehr wiegt, besser also als nichts, und auf hundert besser als in der Stadt, wo ihn die Polizisten zweimal die Nacht wecken und fortschicken.
N., 36, seit 10 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit, das alles kannte ich nicht. Meine Eltern waren süchtig, sie hatten andere Sorgen und nie Zeit für mich. Zum ersten Mal Drogen nahm ich mit 14, aber so richtig rutschte ich erst später rein, mit Mitte zwanzig. Natürlich ist es besonders hart als Frau auf der Gasse, du musst dich immer in Acht nehmen. Prostituieren würde ich mich niemals, das ist nicht nur eine Frage der Hygiene und Gesundheit, sondern auch der Würde. Lieber bettle ich auf der Strasse, viele sind freundlich. Jetzt, wegen Corona, ist es schwieriger, die Leute bleiben zuhause, es fehlt mir permanent an Geld. Vor einigen Tagen musste ich meinen Hund weggeben, das war schlimm. Doch noch schlimmer war für ihn dieses Leben auf der Strasse. Eigentlich bin ich zuversichtlich: ich bin erst Mitte Dreissig, habe mein Leben noch vor mir. Oder?»
C., 46, zwei Kinder, seit 25 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Ich habe mein Leben gelebt, ich war mal oben, mal unten. Diese verfluchten Drogen, der Alkohol, der Strich, das setzt einem zu. Doch ich bin immer noch am Leben, still alive. Ich glaube fest an mich. Und dass alles einen tieferen Sinn hat. Und es am Ende vielleicht gut ist so, wie es ist.»