Aussageverweigerung im falschen Kontext?

von Luca Hubschmied 16. Oktober 2020

Ein Graffiti unter dem Eisenbahnviadukt wird übermalt. So weit, so unspektakulär. Wäre da nicht die juristische Botschaft des Schriftzugs und eine sehr zweifelhafte Begründung der Stadt Bern.

«Anna und Ali halten’s Maul – Don’t talk to the Police, Aussage verweigern» – In grossen violetten Lettern prangte die Botschaft während einiger Tage auf dem schwarzem Hintergrund. Wer das Eisenbahnviadukt unterquerte, das Schützenmatte von Vorplatz der Reitschule trennt, kam unweigerlich an der Botschaft vorbei. Ergänzt wurde sie weiter unten mit dem ziemlich exakten Wortlaut von Arrtikel 113 der schweizerischen Strafprozessordnung: «Die beschuldigte Person muss sich nicht selbst belasten. Sie hat das Recht, die Aussage und ihre Mitwirkung im Strafverfahren zu verweigern.»

Die kleine Juristerei-Lektion en passant hatte jedoch nicht allzu lange Bestand. Schon bald war die Schrift übermalt mit einem dicken weissen Farbband, das die Botschaft unleserlich entstellte. Einzig der zitierte Gesetzesparagraph durfte bleiben.

Übermalte und übersprayte Graffiti sind im Perimeter Schützenmatte keine Seltenheit. Die rasch vonstattengegangene nüchterne Zensur des Graffiti erregte in diesem Fall jedoch Argwohn. Noch vor den Herbstferien stellte Stadträtin Eva Gammenthaler (AL) die Frage an den Gemeinderat, wer für die Übermalung verantwortlich sei und aufgrund welcher Kriterien welche Graffiti übermalt werden.

In seiner gestrigen Antwort räumte der Gemeinderat ein, dass in diesem Falle die farbklecksenden Verantwortlichen auf der Seite der Stadt zu finden sind. Graffitis würden von der Stadt grundsätzlich übermalt, wenn sie «rassistische, sexistische, menschenverachtende Inhalte haben oder mit den Texten oder Darstellungen Drohungen gegen Personen und/oder Institutionen ausgesprochen werden.»

Weshalb das beanstandete Graffiti übermalt wurde, erschliesst sich später aus dem letzten Abschnitt der Gemeinderätlichen Auskunft. Unter dem erwähnten Schriftzug seien auch die Worte «töte Cops» gestanden. Dies habe man zum Anlass genommen, gleich die ganze Wand übermalen zu lassen. Zudem erachte die Stadt laut eigener Aussage die Aufforderung, «Anna und Ali halten’s Maul – Don’t talk to the Police, Aussage verweigern» im Perimeter der Reitschule als problematisch. Stadträtin Eva Gammenthaler sagt gegenüber Journal B, sie sei schockiert über diese Begründung: «Die Aussage zu verweigern, ist ein Grundrecht, das jedem Menschen zusteht. Dieses ist unabhängig vom Kontext und gilt im Perimeter der Reitschule genauso wie überall sonst.»

Doch auch gegen die vordergründige Erklärung des Gemeinderats wehrt sich Eva Gammenthaler: «Der Schriftzug ‚töte Cops‘ stand nie dort, es handelte sich um die Worte ‚hate Cops‘»  Ironischerweise sei nun beim Übermalen des Graffitis ausgerechnet dieser Teil nicht übermalt worden. Der an sich unproblematische grosse Schriftzug darüber aber schon.