Aus Stephanie Gräves Berner Arbeitsbuch – Folge 1

von Stephanie Gräve 14. September 2016

Stephanie Gräve war 2015/16 Schauspieldirektorin am Stadttheater Bern. Journal B bringt in vier Folgen Auszüge aus ihrem Arbeitsbuch über jene Zeit. Heute Folge 1.

Juni 2015, mit Silvia Costa in Bern

Auf den ersten Blick denkt man: die Praktikantin. Sie könnte 16 sein. Doch die Italienerin Silvia Costa ist Anfang 30 und künstlerische Mitarbeiterin eines der ganz grossen europäischen Theatermacher: Romeo Castellucci. Seine aufwendigen Projekte für Oper und Schauspiel wären kaum zu denken ohne sie.

Costa arbeitet dramaturgisch und szenisch mit, kommuniziert mit den Theatern und Künstlern. In ihren eigenen Regiearbeiten könnte man meinen, seinen Einfluss zu entdecken, sie sucht wie er die Begegnung von bildender und darstellender Kunst; aber vielleicht ist es gar nicht sein Einfluss, sondern schlicht ein Interesse, das sie teilen.

Wir stehen in Vidmar 2, es geht um ein Beckett-Projekt. „I see your point about working more installation-like in here“, sagt sie. „It’s a special place.“ Ich erzähle von Bruce Naumans „Beckett Walk“. Die Bewegung und Raum gewordene Erfahrung des Absurden. Später setzen wir das Gespräch vor dem Café Lötschberg in der Sonne fort. Unsere heutige existenzialistische Erfahrung, die sich wenig unterscheidet von der des 20. Jahrhunderts: in eine Welt geworfen sein, die wir nicht begreifen können.

Das europäische Thema unserer Tage in Becketts „Warten auf Godot“: Wladimir und Estragon als zwei Menschen auf der Flucht, die auf ihren Schleuser warten, der sie über die rettende Grenze bringen soll. Silvia Costa denkt in Bildern, Bewegung, Musik. „You think my ideas can work here with the audience“? Die Frage verstehe ich, Costa ist das Publikum internationaler Festivals in Grossstädten gewohnt; ich vertraue aber auf die Offenheit der Berner.

Ende September 2015, mit Christiane Uhlig, Uriel Gast und Gerhard Meister in Zürich

Es war ein Schauspieler, Nico Delpy, der mir zuerst von der Pension Comi erzählte, von Lotte Schwarz und ihrem nie veröffentlichten Roman. Ich suchte nach Sujets für ein Auftragsstück und recherchierte zur Situation jüdischer Emigranten in der Schweiz. Nicos Urgrossvater, russischer Jude und Kommunist, hatte zur NS-Zeit die Zürcher Pension geleitet, in der viele Juden Zuflucht fanden.

Deshalb nun ein Treffen mit Autor Gerhard Meister, Christiane Uhlig – die den Nachlass von Lotte Schwarz verwaltet – und ihrem Mann Uriel Gast. Eigentlich soll es um Rechtefragen zum Roman gehen, doch am Ende, und weil ich immer wieder nachfrage, wird das gemeinsame Essen für mich zum Crashkurs in jüngerer Schweizer Geschichte und zur Bergier-Kommission, gehalten von zwei kenntnisreichen Historikern, kritischen und beeindruckenden Denkern. Ich sage, dass wir das Stück in einer gewissen inhaltlichen Linie sehen, beginnend mit der Eröffnungspremiere, Joseph Roths „Hiob“. Christiane Uhlig liebt diesen Roman ganz besonders – aber im Theater? „Ich glaube, diesen Schmerz könnte ich auf der Bühne nicht aushalten. Ich würde weinen müssen.“ Sie ist glücklich zu hören, dass viele der Vorstellungen schon ausverkauft sind. Dass die Zuschauer in der Schweiz sich so für Joseph Roth interessieren, das hätte sie nicht erwartet.