Aus dem Quartier in die Innenstadt und zurück gedrängt?

von Nino Ruef 3. Oktober 2012

Jugendanlässe in den Wohnquartieren sollen die Innenstadt entlasten. In den Quartieren fühlen sich die Jungen aber oft beobachtet und unerwünscht.

Neben der Einführung einer Jugendbewilligung für nichtkommerzielle Jugendpartys unter freiem Himmel strebt die städtische Jugendarbeit vermehrt alternative Angebote für Jugendliche in den Quartieren an. «Wenn die Jungen am Wochenende in ihrem Wohnquartier an Jugendanlässe gehen können, treffen sie nicht alle im Zentrum aufeinander», erklärt Alex Haller, Bereichsleiter der Kinder- und Jugendförderung der Stadt Bern. Denn dort berge die Durchmischung der verschiedenen Gruppen gerade auch in Kombination mit Alkohol ein gewisses Konfliktpotential (ausführliches Gespräch mit Alex Haller in oben verlinktem Artikel).

Am Nachtleben teilnehmen

Die beabsichtigte Verlagerung des Jugendausgangs an Orte ausserhalb des Zentrums (zum Beispiel im Rahmen von Outdoor-Partys in den Wald) und in die Wohnquartiere reiht sich ein in die von der Jugendarbeit seit längerem beobachtete Tendenz, «Jugendliche aus dem Stadtbild und dem öffentlichen Raum zu verdrängen», wie der Trägerverein für die offene Jugendarbeit (TOJ) in einem Positionspapier «zur aktuellen Diskussion ‘Nachtleben’» formuliert. Die Verantwortlichen fordern deshalb unter anderem, dass auch in der Innenstadt altersgerechte Angebote und Orte ohne Konsumzwang für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren geschaffen würden. «Die Anziehungskraft der Innenstadt ist enorm», sagt Stephan Wyder, Geschäftsleiter des TOJ. Es sei ein Bedürfnis der Jugendlichen am pulsierenden Nachtleben vor der Reithalle oder in der Aarbergergasse teilzunehmen.

Anonymität in Innenstadt bedeutet Freiraum

Ein Grund dafür, dass viele Jugendliche an den Wochenenden in die Stadt fahren, um sich zu treffen und Spass zu haben, liegt möglicherweise auch in den Quartieren selbst.  «Wir hören von den Jugendlichen immer wieder, dass sie sich nirgendwo mehr richtig bewegen können und dass sie sich besonders in den Quartieren unwohl und kontrolliert fühlen», sagt Wyder. Zuerst käme ein Nachbar, dann die Jugendarbeiterin und dann die Polizei. «Die Jungen können heutzutage kaum mehr anonym unter sich sein, sondern werden sofort als Problem wahrgenommen.» Umso stärker sei die Anziehungskraft einer bevölkerten und gleichzeitig anonymen Innenstadt als Treffpunkt und Freiraum für die Jugendlichen.

«Jugendliche müssen sich ihre Plätze erstreiten dürfen»

Neben der Freiräume in der Innenstadt seien nichtsdestotrotz gute Alternativen in den Quartieren gefragt, erklärt Wyder. Wichtig sei jedoch, dass man nicht an den Jungen vorbeiplane. Viele Jugendliche wollen die Orte, wo sie sich treffen können, selber bestimmen. «Es ist wichtig, dass die Jugend ihren Platz hat, aber es ist auch wichtig, dass sie ihn sich erstreiten darf. Dadurch werden diese Räume erst identitätsstiftend und lebendig.»

Zwischennutzung leerstehender Räume

Nicht nur in der Innenstadt, auch in den Quartieren fehlt es an Räumen. Umso wichtiger sei eine Zusammenarbeit der Jugendarbeit mit der Stadt, findet Wyder. Dabei sei es nicht nötig, überall neue Gebäude hinzustellen. «Interessant wäre es aber zu schauen, wo es leerstehende Räume gibt, die für eine Zwischennutzung zur Verfügung gestellt werden könnten. Diese Räume könnten für zwei oder drei Jahre in Jugendtreffpunkte umfunktioniert werden, und wenn eine Gruppe herausgewachsen ist, wieder freigegeben werden.» Die im «Konzept Nachtleben Bern» erwähnte Raumbörse zur Erleichterung der Zwischennutzung von Räumen könnte ein Schritt in diese Richtung sein.

Beseitige Bereitschaft zum Dialog

Dass genügend Treffpunkte für Jugendliche in Innenstadt wie in den Quartieren alle Probleme lösen können, sei aber nicht realistisch, findet Wyder. Und nicht wünschenswert. «Eine Jugend, die nur noch geliebt wird, und die im Gegenzug keine neuen Lebensentwürfe gestaltet und damit die bestehenden Strukturen herausfordert, ist nicht das Ziel.» Aber es brauche die beidseitige Bereitschaft zum Dialog und zur Toleranz: «Jugendanlässe in den Quartieren als Alternativangebot zum Ausgang in der Innenstadt sind Gold wert. Aber es braucht Räume, wo sie stattfinden können, einen Hausabwart, der um Mitternacht noch den Schlüssel umzudrehen bereit ist, Nachbarn, die bereit sind, um diese Zeit noch Stimmen auf der Strasse zu hören – es braucht ein Zusammengehen.»

«Alternative zum konsumorientierten Ausgang»

Dieselbe Meinung vertritt Samuel Mettler, Projektkoordinator der Region Bern/Solothurn von idée:sport. Die Stiftung nutzt Sport als Mittel der Gewalt- und Suchtprävention und hat eines der raren Alternativangebote für den jugendlichen Ausgang in der Stadt ins Leben gerufen: die Midnight Sports-Abende.  In den Turnhallen Fischermätteli und Tscharnergut können sich Jugendliche ab 13 Jahren zwischen 21 Uhr und Mitternacht treffen. Dort können sie gemeinsam Sport treiben (beliebt sind Streetsoccer, Basketball oder Volleyball) oder tanzen, Matches in Tischfussball oder Tischtennis bestreiten oder einfach nur unter sich sein und Musik hören. «Wir bieten den Jugendlichen damit eine Alternative zum konsumorientierten Ausgang an», sagt Mettler. Das Angebot findet bei den Jugendlichen Anklang. Wöchentlich treffen sich 60 bis 80 Jugendliche zu den Midnight Sports-Abenden in Bern West.

Mehr Akzeptanz durch lokale Verankerung

Die Antriebsfedern seien der Sport und die Musik: «Manche kommen für den Sport und geben den ganzen Abend Vollgas – andere wollen einfach ihre Kollegen treffen und kommen im Ausgangstenue.» Gerne würde die Stiftung weitere Quartiere erschliessen, die Nachfrage nach den Angeboten sei unbestritten, oft hapere es am Ende am Fehlen der Ressourcen, finanzieller aber auch personeller und infrastruktureller Natur. «Den Bedürfnissen der Jugendlichen entsprechende Projekte können nur in Zusammenarbeit mit den Jugendlichen selbst, mit der Unterstützung der öffentlichen Hand, der Privatwirtschaft und mit Hilfe vieler engagierter Menschen aus den Quartieren realisiert werden», sagt Mettler. «Es müssen alle zusammenspannen, statt sich die Aufgabe hin und her zu schieben.» Die Verankerung in den unterschiedlichsten Kreisen von Helferinnen und Helfern hat denn auch einen positiven Nebeneffekt: «Durch das Miteinbeziehen der Jugendlichen, die Einbindung lokaler Organisationen und Institutionen wie Quartiervereine, Kirchen oder Elternräte gibt es eine starke Identifikation des Quartiers und der Jugendlichen mit dem Anlass.» Dass das auch zu mehr Akzeptanz von Jugendanlässen in der Quartierbevölkerung führt, ist kein abwegiger Gedanke.