Aus dem Orkus der Geschichte taucht der Archipel Administrativjustiz auf

von Fredi Lerch 19. Juni 2013

In Bern hat der Runde Tisch zur Wiedergutmachung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen seine Arbeit aufgenommen. Klar ist: Die Opfer-Organisationen wissen, was sie wollen. Kommt’s den Staat teuer, kostet’s fast neun Gripen.

Am 11. April hat sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Namen der Landesregierung bei den ehemaligen Verdingkindern und Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen entschuldigt. Und sie hat zur Aufarbeitung einen Runden Tisch angekündigt unter dem Vorsitz von alt Ständerat Hansruedi Stadler (CVP). Am letzten Donnerstag hat in Bern die erste Sitzung stattgefunden.

«Der demonstrativ konformistische Menschenschlag der Schweiz ist weder auf Gottgefälligkeit noch auf genetische Disposition, sondern auf ein umfassendes System aus Drohung, Nötigung und Zwang zurückzuführen»

Fredi Lerch

Setzt sich die offizielle Schweiz mit Menschen an einen Tisch, denen vor Jahrzehnten politisch zu verantwortendes Unrecht angetan worden ist, ohne dass dies politische Verantwortliche bis dato wahrnehmbar gestört hätte, dann wird man sich fragen müssen: Was hat sich verändert? Niemand ist ja so naiv zu meinen, die politisch Verantwortlichen seien plötzlich, gleichzeitig und in stabiler Mehrheit zur Einsicht gelangt, mit der systematischen Menschenversorgerei und -zurichterei sei damals über immer mögliches individuelles Versagen hinaus etwas nicht in Ordnung gewesen.
Aber was hat sich denn verändert? Verschiedenes:

• Wie in anderen Politikfeldern erzeugen ausländische Beispiele einen Reformdruck: Länder wie Irland, Schweden oder Deutschland haben im Zusammenhang mit vergleichbaren sozialgeschichtlichen Phänomenen Wiedergutmachungszahlungen beschlossen und auszuzahlen begonnen.

• Am 13. April 2011 hat Nationalrat Paul Rechsteiner (SP) mit einer Parlamentarischen Initiative die Schaffung eines «Gesetzes zur Rehabilitierung der administrativ Versorgten» angestossen. Seit April 2013 liegt der Vernehmlassungsbericht zum Gesetzesentwurf vor. Zwar haben die Bürgerlichen dem Gesetz präventiv schon mal die Zähne gezogen, indem sie Wiedergutmachungszahlungen ausgeschlossen haben. Aber das Thema hat das Bundeshaus erreicht.

• Eine junge Generation von Historikerinnen und Historikern hat in den letzten zehn Jahren mit wissenschaftlichen Arbeiten verschiedene Facetten des Themas ins öffentliche Bewusstsein zurückgebracht. Für das Bernbiet zu nennen sind insbesondere der Bericht über «Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912-1978» von Marco Leuenberger, Lea Mani, Simon Rudin und Loretta Seglias (2011) und die eben erschienene Dissertation von Tanja Rietmann über die «Administrative Anstaltsversorgung im Kanton Bern (1884-1981)» (2013).

Am Runden Tisch ist die Delegation der Opfer administrativ Versorgter weniger naiv erschienen, als dem Krisenmanagement der ehemaligen Täter lieb sein konnte: Der Verein zur Rehabilitierung administrativ Versorgter, der Verein netzwerk-verdingt, der Verein Fremdplatziert und die Interessengemeinschaften für Zwangsadoptierte und Zwangssterilisierte haben als Diskussionsgrundlage vorgängig ein siebenseitiges Dokument mit Anträgen samt einem «Finanzierungsplan für die Kosten von Aufarbeitung und Entschädigung» beschlossen und veröffentlicht.

Zur Wiedergutmachung schlagen die Opferorganisationen einerseits einen Fonds «für sofortige Beihilfen in dringlichen Härtefällen» (50 Millionen Franken) sowie raschestmögliche Entschädigungszahlungen in Form einer Rente vor (was bei geschätzt 10’000 Opfern Kosten von bis zu 1,2 Milliarden Franken ausmachen würde).

«Zur Diskussion steht demnach eine Art Bergier-Bericht zur schweizerischen Sozialgeschichte»

 

Zur historischen Aufarbeitung empfehlen sie «einen gleich hohen Rahmenkredit wie seinerzeit für die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – 2. Weltkrieg» (22 Millionen Franken). Zur Diskussion steht demnach eine Art Bergier-Bericht zur schweizerischen Sozialgeschichte.

Dass ein Bericht zur Frage, wie die Protagonisten des liberalen Bundesstaats seit 1848 mit ihrem Volk umgegangen sind, nicht weniger spannend wäre als noch so umfassende Forschungen zur Frage, wie die Schweiz zwischen 1939 und 1945 taktiert hat, scheint möglicherweise nicht nur mir plausibel. Aber in der Sozialgeschichte gibt es dummerweise kein böses Ausland, das jeden Eingeborenen von vornherein zum Trotz-allem-Guten adelt; unter dieser Perspektive haben Opfer und Täter gleichermassen zumeist das Schweizer Bürgerrecht. Welches Interesse sollten – sagen wir – Bauern und ihr Verband, Kirchen, Hilfswerke oder Gemeinden an fundierter sozialgeschichtlicher Forschung haben?

Falls es aber am Runden Tisch trotzdem gelingt, diesen «Bergier-Bericht» anzustossen, dann wäre dringlich zu empfehlen, als Arbeitshypothese nicht bloss von einem «dunklen Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte» auszugehen – wie Stadler das Thema in seiner Medienmitteilung zum Runden Tisch vom 13. Juni charakterisiert.

Denn möglicherweise geht es nicht um «ein dunkles Kapitel», sondern um den Kern der schweizerischen Sozialpolitik zwischen der zweiten Hälfte des 19. und dem späten 20. Jahrhundert. Möglicherweise geht es um einen Staat im Staat, der als «Archipel Administrativjustiz» zunehmend an Kontur gewinnt. Es geht darum, dass Kindwegnahmen, Verdingkinderwesen, dass die hunderten von Erziehungs-, Zwangserziehungs-, Korrektions-, Arbeits-, Armen- und Irrenanstalten vermutlich eine zusammenhängende, generalpräventive Drohkulisse bildeten zur Herstellung angepasster Schweizer und Schweizerinnen. Die Landkarte des Archipels Administrativjustiz würde – so meine Hypothese – aufzeigen, dass der demonstrativ konformistische Menschenschlag der Schweiz weder auf Gottgefälligkeit noch auf genetische Disposition, sondern auf ein umfassendes System aus Drohung, Nötigung und Zwang zurückzuführen ist, von dem C. A. Loosli 1938 im «Beobachter» geschrieben hat, es ziele darauf, Menschen «der besitzlosen und rechtlich meist durchaus ungebildeten Bevölkerung […] sowohl moralisch als rechtlich und bürgerlich einfach zu vernichten».

An der ersten Sitzung des Runden Tischs sind vorderhand Aufträge zu vertiefenden Abklärungen erteilt worden und Stadler hat in seiner Pressemitteilung geschrieben: «Die Aufarbeitung schliesst namentlich die Prüfung von finanziellen Fragen ein.» Immerhin: Verbindlicher ist die schweizerische Öffentlichkeit noch nie darauf vorbereitet worden, dass diese Geschichte am Ende etwas kosten könnte.