Aus Angst verzichtet

von Janine Schneider 12. Juni 2023

Sozialhilfe (Teil 5) Nicht alle, die Anrecht darauf hätten, beziehen auch Sozialhilfe. Manche fürchten um ihren Aufenthaltsstatus. Sie wenden sich an private Hilfsorganisationen und Vereine wie beispielsweise Lohnteilen.

Niemand weiss, wie viele es sind. Was man weiss: Es sind mehr als noch vor zehn Jahren. Die Anzahl Personen, die keine Sozialhilfe beziehen, obwohl sie Anspruch darauf hätten, hat zugenommen. Dahinter steckt vor allem die Angst, durch den Bezug von Sozialhilfe den eigenen Aufenthaltsstatus oder die Chancen auf eine Einbürgerung zu gefährden. Diese Angst ist gewachsen, und zwar seit am ersten Januar 2018 das neue Bürgerrechtsgesetz in Kraft getreten ist. Seither müssen Personen, die sich einbürgern lassen möchten, erhaltene Sozialhilfe vollständig zurückzahlen, sofern sie diese in den drei Jahren unmittelbar vor der Gesuchsstellung oder währenddessen bezogen haben. Im Kanton Bern ist der frühere Sozialhilfebezug gar ein Einbürgerungshindernis. Und das bis zu zehn Jahre nach dem Bezug.

Für viele Menschen besteht die einzige Anlaufstelle in privaten Organisationen, die finanzielle Unterstützung bieten, wie zum Beispiel im Verein Lohnteilen.

Ebenso prekär ist die Lage für Personen mit einem C-Ausweis. Nach dem neuen Ausländer- und Integrationsgesetz, das seit Januar 2019 gilt, können die kantonalen Migrationsbehörden Ausländer*innen, die Sozialhilfe beziehen, den C-Ausweis entziehen und ihn durch einen B-Ausweis ersetzen. Im schlimmsten Fall droht ihnen sogar der komplette Widerruf des Aufenthaltsrechts und die anschliessende Wegweisung.

Isolation und Armut

Die Kommission für Sozialhilfe weist schon 2021 in einem Analysepapier darauf hin, dass das neue Ausländerrecht damit verhindere, dass alle Personen, die Anrecht auf Sozialhilfe hätten, diese auch beziehen würden. Vor einem Jahr veröffentlichte das Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien schliesslich die Forschungsergebnisse einer Studie, die den Nicht-Bezug von Sozialhilfe bei Ausländer*innen mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung für den Zeitraum zwischen 2016 und 2019 untersucht hat.

Ein roter Tisch mit einem Kaffee, Wasser und einer Karte auf der «Lohnteilen» steht.
Der Verein Lohnteilen wurde während der Coronapandemie durch Berner*innen und Bieler*innen gegründet (Foto: Federica Alberti).

Die Studie stellte fest, dass seit dem neuen Ausländerrecht 2019 markant mehr Ausländer*innen auf den Bezug von Sozialhilfe verzichten würden. Die Folge ist höchst problematisch: Viele verschulden sich, werden sozial wie beruflich isoliert und leben deshalb in Armut.

Menschen helfen Menschen

Für viele besteht die einzige Anlaufstelle in privaten Organisationen, die finanzielle Unterstützung bieten, wie zum Beispiel im Verein «Lohnteilen». Lohnteilen ist so simpel wie der Name sagt: Wer sich finanziell in einer stabilen Situation befindet, kann einen Betrag eigenen Ermessens an den Verein zahlen. Wer in einer Notlage steckt und finanzielle Hilfe benötigt, kann ein Gesuch stellen und einmalige Unterstützung erhalten.

«Wir möchten die gesellschaftliche Solidarität fördern», erklärt Fiona, die im Kernteam von Lohnteilen aktiv ist. Der Verein wurde während der Coronapandemie durch Berner*innen und Bieler*innen gegründet. «Das besondere an der Pandemie war», so Fiona, «dass sie alle möglichen Bevölkerungsschichten getroffen hat. Zuerst die, die schon von Armut betroffen waren. Dann aber auch Selbstständige, kleine Betriebe oder Studierende.»

Eine junge Frau mit roten Haaren lächelt in die Kamera.
«Wir möchten die gesellschaftliche Solidarität fördern», sagt Fiona von Lohnteilen (Foto: Federica Alberti).

Damals entstand an einem Familientisch die Idee, dass Menschen, die aufgrund der Pandemie in Schwierigkeiten geraten waren, durch solidarische Spenden unterstützt werden sollten. Seither sind 732 Spenden eingegangen, im Umfang von insgesamt 184’167 Franken. Fast der gesamte Betrag – 180’700 Franken – wurde an Menschen in Notlagen überwiesen. Das schöne ist: Ein Teil der Menschen, die während der Pandemie Unterstützung erhalten hatten, haben sich seither selbst mit einem kleinen Betrag revanchiert.

Die Familie hätte zwar ein Anrecht auf Sozialhilfe, möchte aber ihren Aufenthaltsstatus nicht gefährden, deshalb verzichtet sie darauf.

Im letzten Jahr haben die Corona-bedingten Gesuche stark abgenommen. Deshalb hat Lohnteilen entschieden, nun auch Gesuche aufgrund der Energie- und Inflationskrise anzunehmen. Darunter sind auch Fälle von Menschen, die Angst haben, Sozialhilfe zu beziehen. «Es gibt zum Beispiel eine vierköpfige Familie, die wir unterstützt haben», erzählt Fiona, «die Eltern haben während der Pandemie ihre Jobs verloren oder mussten den Beruf wechseln. Nun versuchen sie, ihre Familie mit einem Lehrlingslohn durchzubringen.» Die Familie hätte zwar ein Anrecht auf Sozialhilfe, möchte aber ihren Aufenthaltsstatus nicht gefährden, deshalb verzichtet sie darauf.

Mit Überbrückung unterstützen

Lohnteilen ist nur ein Unterstützungsprojekt unter verschiedenen und ein eher kleines. So gibt es beispielsweise auch die Stiftung SOS Beobachter, die sich ebenfalls aus Spenden finanziert. Gesuche können nicht nur von Betroffenen, sondern insbesondere auch von Vermittlungspersonen oder Rechtsanwält*innen eingereicht werden. Andere Projekte fördern die soziale und kulturelle Teilhabe, so zum Beispiel die von Caritas initiierte Kulturlegi, indem sie verbilligten Zugang zu Theateraufführungen, Konzerten und sportlichen Aktivitäten bietet.

Indem Betroffene sich nicht an die Stadt, sondern an nicht-behördliche Hilfsorganisationen wenden können, soll ausserdem die Niederschwelligkeit des Projektes gewährleistet werden.

Auch die Stadt Bern ist sich seit der Corona-Pandemie stärker bewusst, dass es Berner*innen gibt, die auf Sozialhilfe verzichten oder überhaupt keine beanspruchen können. Deshalb hat sie diesen Winter zum ersten Mal ein Pilotprojekt für Überbrückungshilfen lanciert. In einem Interview mit dem SRF Regionaljournal betont Franziska Teuscher, Direktorin für Bildung, Soziales und Sport, dass sich die Stadt Bern zusammen mit anderen Gemeinden und Kantonen dafür einsetze, dass die problematische Verknüpfung zwischen Aufenthaltsrecht und Sozialhilfe wieder aufgelöst werde. «Bis dahin will die Stadt Bern Leute in Not gezielt unterstützen», betont sie im selben Interview.

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Die Überbrückungshilfen sollen genau dieser Unterstützung dienen: sie sollen den Lebensbedarf sichern, betreffe das Wohnen, Lebensmittel, Kleidung oder auch die Gesundheit. Indem Betroffene sich nicht an die Stadt, sondern an nicht-behördliche Hilfsorganisationen wenden können, soll ausserdem die Niederschwelligkeit des Projektes gewährleistet werden. Damit sollen genau jene Bevölkerungsgruppen erreicht werden, die bisher aus Angst vor Verlust ihres Aufenthaltsstatus keine Sozialhilfe beziehen und drohen, in die Armut abzurutschen. Ob das Pilotprojekt erfolgreich sein wird, muss sich allerdings erst noch zeigen.

Kanton und Bund sind in der Verantwortung

Projekte wie Lohnteilen oder das der Stadt Bern können zwar einmalige Gelder überweisen, Rechnungen begleichen und damit eine Verschuldung verhindern oder die Lebensmittel für einen Monat bezahlen. Sicherheitsnetze wie beispielsweise die Sozialhilfe können sie aber nicht ersetzen. Das wollen sie auch nicht. «Es ist die Aufgabe, jedes und jeder einzelnen, solidarisch zu sein», meint Fiona von Lohnteilen, die selbst als Sozialarbeiterin tätig ist, «aber es ist nicht die Aufgabe einiger auserwählter Leute, strukturell verursachte Notlagen auszubaden. Diese Unterstützung muss vom Staat selbst kommen.»

Es ist die Aufgabe, jedes und jeder einzelnen, solidarisch zu sein.

Wie Franziska Teuscher betont, setze sich auch die Stadt Bern dafür ein. Veränderungen auf kantonaler oder sogar nationaler Ebene sind allerdings nicht in Sicht. So wurde zwar im Juni 2020 die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» durch die SP-Nationalrätin Samira Marti eingereicht. Die Initiative forderte, dass für Ausländer*innen nach zehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz der Bezug von Sozialhilfe kein Grund mehr für eine Ausweisung sein darf. Der Nationalrat hatte die Initiative angenommen. Von der staatspolitischen Kommission des Ständerats wurde sie im Februar jedoch zur Ablehnung empfohlen. Nun liegt es am Ständerat, ob sich auf nationaler Ebene etwas ändern könnte. Bis dahin bleibt die Ungleichheit im Sozialhilfesystem bestehen.