Aus alt mach neu – und besser

von Martin Mäder 28. Mai 2014

Bekanntlich ist in der Stadt Bern bezahlbarer Wohnraum rar. Wer eine preiswerte Wohnung hat, bleibt dort oft für Jahre. Doch was ist, wenn das Gebäude ersetzt werden soll?

«Wir haben zuerst die energetische Sanierung der Siedlung verfolgt und mussten einsehen, dass wir damit viel Geld ausgeben und trotzdem noch alte Wohnungen mit unzeitgemässer Grösse und Grundriss haben», erklärt Franziska Iseli. Sie beschreibt die Situation der Berner Immobiliengesellschaft BIWO AG im Zusammenhang mit der Siedlung an der Krippen- und Bahnstrasse im Holligen-Quartier. «Wir haben uns für den kompletten Ersatz an Ort und Stelle der vier rund 50-jährigen Wohnblöcke entschieden», sagt Iseli als Geschäftsführerin der BIWO AG.

Doch soll und kann die BIWO AG überhaupt, wenn auch nur im Sinne eines Ersatzes, Wohnhäuser abreissen? Denn schliesslich war die Gesellschaft, an der die Stadt Bern eine Beteiligung von 40 Prozent hält, 1953 als Wohnbaugenossenschaft gegründet worden, um in Bern erschwinglichen Wohnraum zu erstellen. Die BIWO AG kann; und setzt dies seit Anfang März mit dem Abriss des Blocks an der Bahnstrasse 93-97 auch um.

Franziska Iseli: «Es werden 24 einheitliche 3-Zimmer-Wohnungen durch 30 Wohnungen mit einem Mix aus 2,5-, 3,5- und 4,5-Zimmer-Wohnungen ersetzt.» Dass es schlussendlich mehr Wohnungen sind, wird ermöglicht durch eine Aufstockung um ein Stockwerk.

Nach der Bahnstrasse 93-97 wird voraussichtlich ab Frühling 2016 das Wohnhaus Krippenstrasse 30/32 ersetzt.

Gute Akzeptanz

Der Ersatzneubau einer Siedlung klappt nur mit strukturierter Vorgehensweise. Hier geht es immerhin um insgesamt 102 Dreizimmerwohnungen, die unter der Bauleitung der Ernst Gerber Architekten + Planer AG innerhalb der nächsten 10 bis 15 Jahre ausgetauscht werden sollen. Und die Kosten alleine für den ersten Block betragen gemäss Franziska Iseli rund 10 Millionen Franken. Trotz aller Dimension und Tragweite war gegen das Ersatzneubauprojekt der BIWO AG keine Einsprache erfolgt. Franziska Iseli: «Klar war man zu Beginn enttäuscht, doch man hatte aber auch Verständnis und war um die angebotene Unterstützung froh.»

Gemäss Iseli gab es gleich nach dem Entscheid für den Ersatzneubau für die betroffenen Mieterinnen und Mieter an der Bahnstrasse 93-97 eine persönliche Information. Als nächstes wurde das Quartier mit einer Anwohnerinformation orientiert und es wurde eine Pressemitteilung versandt. Zudem siedelte man bei der Quartierarbeit des Stadtteils 3 ein Mieterbüro vor Ort an, wohin sich die Betroffenen wenden konnten. Nebst der Quartierarbeit wurde auch Immobilien Stadt Bern (ISB) involviert. Für Désirée Renggli von der Quartierarbeit hat dieses Projekt denn auch Modellcharakter: «Wir haben ein grosses Interesse feststellen dürfen. Bei uns meldeten sich etwa diverse private Liegenschaftsverwaltungen oder gar andere Städte, die sich nach dem Prozess erkundigten.»

Unterschiedliche Lösungen

Dass man an der Bahn- und Krippenstrasse in Etappen gleich eine ganze Siedlung erneuert, bot bei der Suche nach Wohnersatz eine gute Ausgangslage. Franziska Iseli für die BIWO AG: «Die Vorteile des Bauens in Etappen sind, dass einerseits Ersatzwohnungen in den übrigen Liegenschaften genutzt werden können und andererseits die Bewohner des zweiten Blocks dann in den ersten fertigen Block umziehen könnten.» Heute hätten sämtliche der betroffenen 21 Parteien «eine gute und vernünftige Anschlusslösung», sagt Franziska Iseli.

Die effektiv getroffenen Lösungen präsentieren sich laut Désirée Renggli von der Quartierarbeit Stadtteil 3 «sehr unterschiedlich». So war etwa für die Hälfte der rund 35 Betroffenen gleich klar, dass man wieder zurück in die Siedlung will. Für diese Mieter fand man eigentliche Ersatzwohnungen, oft auch aus dem ISB-Portfolio, also Wohnungen der Stadt. Zwei Parteien entschieden sich laut Renggli für eine Anschlusslösung in einem Altersdomizil. Sie werden nicht mehr zurückkehren. Désirée Renggli erklärt: «Wichtig ist, dass man hier intensiv begleitet und dies wenn möglich unter Einbezug der Angehörigen.»

Vom Provisorium zum «Providurium»?

Laut Désirée Renggli hat man «von Beginn weg kommuniziert, dass es keine Garantie für eine Übergangslösung gibt». Deshalb sei wichtig gewesen, dass sich die Betroffenen auch selbst nach einem Domizil umsahen. Hierfür habe das Mieterbüro der Quartierarbeit Stadtteil 3 ein Dossier mit Tipps zur Wohnungssuche sowie weiteren Ratschlägen zusammengestellt.

Froh um diese Hilfe war Sabina Bürgin. «Meine aktuelle Wohnung befindet sich in Bümpliz und ich fand sie auf Vermittlung des Mieterbüros», sagt Bürgin. Obwohl im alten Quartier gut verwurzelt, sie wohnte 22 Jahre im Eingang Bahnstrasse 95, hat sich die 58-Jährige mit der neuen Umgebung bereits gut angefreundet. «Weil ich wusste, dass ich in Bümpliz ein Zimmer weniger haben würde, nutzte ich gleich die Gelegenheit, mich von mehr als einem Drittel des Hausrats zu trennen», schildert die Pflegefachfrau und Naturheiltherapeutin ihren Umzug.

Man sei zuvor von der BIWO AG gut über das Projekt informiert worden. Sie wisse auch um ihr Vormietrecht, doch da ihr die neue Wohnung so gut gefalle, sei die Rückkehr ungewiss. Sabina Bürgin: «Es geht jetzt noch rund anderthalb Jahre bis zum Bezug des neuen Blocks. Mir ist bewusst, dass ich in dieser Zeit eine noch stärkere Bindung zu meiner heutigen Wohnung aufbauen werde.»

Wenn möglich wieder zurück

Anders als Sabina Bürgin geht es Latif Rao. Der 41-Jährige wohnte an der Bahnstrasse 97 im obersten Stock und ist mit seiner Frau und den drei Kindern aktuell in einem Provisorium keine 50 Meter vom abgerissenen Haus entfernt. Und Raos möchten gerne in den neuen Block. Als er vom Neubauprojekt gehört habe, sei aber seine erste Reaktion eher negativ ausgefallen, erklärt Rao. «Meine Sorge war, dass wir uns den neuen Zins nicht mehr würden leisten können.» Zudem habe der Sohn traurig auf die Nachricht reagiert, weil er in die Kita im Quartier ging und hier auch seine Spielkameraden sind.

Nun ist man um die getroffene Übergangslösung sehr froh. «Ich hatte diese Wohnung ausgeschrieben gesehen und Immobilien Stadt Bern unterstützte uns bei der Vergabe.» Die fünfköpfige Familie will dann eine der neuen 4,5-Zimmer-Wohnungen beziehen. Man habe schriftlich das Interesse an einer solchen Wohnung deponiert, so Rao. «Weil der neue Zins gewiss höher sein wird, wissen wir aber noch nicht, ob wir uns wieder eine Dachwohnung werden leisten können», gibt sich der aus Pakistan stammende Kaufmann und Serviceangestellte ungewiss.

Höhere Mieten als Wermutstropfen

Latif Raos Bedenken sind verständlich. Denn jene, die von ihrem Vormietrecht Gebrauch machen wollen und ihr Interesse an einer Wohnung im voraussichtlich Herbst 2015 bezugsbereiten ersten Neubau angemeldet haben, müssen spürbar höhere Mieten gewärtigen. Doch sie erhalten dafür grössere Grundrisse und modernere Ausstattungen. «Unser Ziel ist es, durchschnittlich einen Mietzins im Bereich von 200 bis 210 Franken pro Quadratmeter und Jahr anbieten zu können. Heute liegt der Basismietzins bei zirka 165 pro Quadratmeter im Jahr, verdeutlicht Franziska Iseli den Zinsaufschlag. Immerhin würden gemäss Iseli auch die neuen Zinsen noch immer rund 20 Prozent unter vergleichbaren Werten im Quartier liegen.

Für die Geschäftsführerin der BIWO AG sind dafür eine hindernisfreie Ausgestaltung und eine energiesparende Bauweise weitere Pluspunkte. Sollte sich jemand der alten Mieterschaft die neue Miete trotzdem nicht leisten können, ist der Abschied aus der Siedlung Krippen- und Bahnstrasse wohl unumgänglich. Es findet eine so genannte Verdrängung statt.

Dass dieser Prozess inzwischen Normalität ist, verdeutlicht das Interview mit Dominic Zimmermann. Der wissenschaftliche Assistent am Geographischen Institut der Universität Bern beschäftigt sich mit Fragen sozialräumlicher Stadtentwicklung. Auch mit solcher wie im Holligen-Quartier.