Journal B: Herr Coullery, angenommen, Sie wären auf Sozialhilfe angewiesen, wo möchten Sie am liebsten wohnen?
Pascal Coullery: In der Westschweiz. Nicht nur, weil in der Romandie die SKOS-Ansätze unbestritten sind. Auch weil die Romandie eine etwas andere Einstellung zum Sozialstaat hat. Wer Sozialhilfe bezieht, wird nicht automatisch in eine Ecke gestellt. Da gibt es tatsächlich einen Röstigraben. Sozialhilfemissbrauch ist in der Romandie kaum ein Thema.
Und wo würden Sie lieber nicht wohnen?
In der Ostschweiz. Weil dort die Strukturen relativ kleinräumig sind. Und vielerorts das Kommunalprinzip gilt. In kleinen Gemeinden, wo jeder jeden kennt, ist das oft ein Problem. Es ist auch schon zu Schlagzeilen gekommen, dass wegen der hohen Sozialhilfekosten die Steuern erhöht werden müssen.
Pascal Coullery (59) ist ein ausgewiesener Kenner des Sozialhilfesystems. Der Berner Jurist war fast zehn Jahre lang im Stab von Bundesrätin Ruth Dreifuss, danach bis 2016 Generalsekretär der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern. Heute ist der zweisprachige Berner Dozent für Sozialpolitik und Sozialrecht an der Berner Fachhochschule für Sozialarbeit in Bern. Er forscht in einem Nationalfondsprojekt zum Thema der Rechtsmobilisierung in der Sozialhilfe, das heisst, er geht der Frage nach, welche rechtlichen Stolpersteine Berechtigten den Zugang zur Sozialhilfe behindern.
Dazwischen liegt der Kanton Bern, der in Sachen Sozialhilfebeiträgen geizig ist. Wie lebt es sich denn hier als Armutsbetroffene?
Nicht besonders gut. Aber immerhin haben wir hier regionalisierte Sozialdienste. Aber: Die individuellen Beiträge, die Armutsbetroffene erhalten, sind das eine. Das andere sind die Institutionen und der Druck der Gesellschaft. In überschaubaren Räumen ist der grösser.
Nun kommen Sie als Akademiker mit einer gesicherten Stelle bestimmt nicht in die Lage, dass sie Sozialhilfe beziehen müssen. Welche Personengruppen sind besonders gefährdet?
Ein überdurchschnittliches Sozialhilferisiko haben Personen ohne nachobligatorische Bildung, Geschiedene und Kinder. Die wirtschaftlichen Folgen von Scheidungen sind nicht abgedeckt, Alleinerziehende sind daher stark gefährdet.
977 Franken gibt es im Kanton Bern für den Grundbedarf. Sie SKOS empfiehlt 1’031 Franken. Warum macht der Kanton Bern diese Abstriche?
Die 977 Franken, die der Kanton Bern ausrichtet, waren vor einigen Jahren der gültige SKOS-Ansatz. Seit 2009 empfiehlt die SKOS, dass dieser Betrag dem Mischindex angepasst wird, wie er für die AHV und die Ergänzungsleistungen gilt. Dazu wäre aber ein Regierungsratsentscheid nötig. Und der ist in den letzten Jahren nicht erfolgt.
Die Ansätze für den Grundbedarf müsste man meines Erachtens national regeln.
Ist es also der mehrheitlich bürgerliche Regierungsrat, und darin vor allem der bürgerliche Sozialdirektor P. A. Schnegg, dafür verantwortlich?
Seit 2016 schon. Ehrlicherweise muss aber gesagt werden, dass die erste Nichtanpassung des Grundbedarfs noch in die Zeit der rot-grünen Regierungsmehrheit fiel. Der bürgerlich dominierte Grosse Rat hatte ein Sparpaket gefordert und es erschien naheliegend, eine Nichterhöhung als Einsparung zu verkaufen. Allerdings ging man natürlich davon aus, dass die SKOS-Richtlinien später dann wieder in voller Höhe angewendet werden. Aber das ist nie passiert.
Sie waren in dieser Zeit ja Generalsekretär in der Gesundheits- und Fürsorgedirektion. Wie haben die auf diesen Abbau reagiert?
Es häuften sich in diesen Jahren die negativen Schlagzeilen rund um die Sozialhilfe, die Einzelfälle aufbauschten (Stichwort «Mercedes-Fahrer bezieht Sozialhilfe»). Wir versuchten deshalb, hier Gegensteuer zu geben. Wir wollten der Armut ein Gesicht geben. Ab 2008 gaben wir bis 2015 deshalb regelmässig Armutsberichte heraus. Und zwar zweiteilig: einerseits mit wissenschaftlichen Daten und Statistiken, anderseits einen Teil, in dem die Betroffenen zu Wort kamen. Wir wollten vor allem zeigen, wie Sozialhilfebezüger leben. Wie es ist, wenn man mit dem minimalen Grundbedarf leben muss. Wir organisierten auch Treffen mit Grossrätinnen und Grossräten und sogenannte Sozialgipfel. Aus der Überlegung heraus, dass sich die negativen Missbrauchsgeschichten, die immer Einzelfälle darstellten, nicht in den Köpfen festsetzen.
Die Sozialhilfe ist rein steuerfinanziert. Da kommt relativ schnell eine Neidkultur auf.
Mit Erfolg?
Nur zum Teil. Es gibt in jeder Partei Leute, die sozial aufgeschlossen sind und eine gerechte Verteilung befürworten. Aber das sind halt oft nicht die Meinungsträger, die sich in den Fraktionen durchsetzen. Und: 2016 hat man dann die Armutsberichte ersatzlos gestrichen.
Warum eigentlich hat nur die Sozialhilfe dieses Problem? IV, AHV oder Ergänzungsleistungen werden nie hinterfragt.
Sozialversicherungen speist jeder und jede mit ihren Beiträgen. Deshalb haben alle das Gefühl, da habe ich einen Anspruch. Die Sozialhilfe ist rein steuerfinanziert. Da kommt relativ schnell eine Neidkultur auf. Viele denken, da werden mit meinen Steuerfranken Leistungen bezahlt. Kommt dazu, dass man sich wahrscheinlich kaum vorstellen kann, dass man selber in die Armut abrutschen könnte. Irgendwie schwingt bei vielen ausgesprochen oder unausgesprochen der Gedanke mit, «wer arm wird, ist wohl ein wenig selber schuld».
Die Sozialhilfe ist kantonal geregelt. Würde eine schweizweite Lösung mehr Gerechtigkeit bringen?
Vom System her gedacht müsste man die Ansätze für den Grundbedarf meines Erachtens national regeln. Regionale Unterschiede gibt es bei den Mieten und den Krankenkassenprämien, nicht aber beim Grundbedarf für den Lebensunterhalt. Das Weggli in der Migros oder im Coop kostet überall gleich viel, in der Stadt Bern wie im Haslital. Die AHV-Renten sind ja auch schweizweit einheitlich. Allerdings sehe ich zwei Probleme: Eine nationale Regelung bräuchte eine Verfassungsänderung. Und die hat politisch wohl keine Chance; die Kantone werden ihre Kompetenz nicht abgeben wollen. Zudem ist ein nationaler Gesetzgeber nicht automatisch sozialer und grosszügiger als ein kantonaler.
Man nimmt in Kauf, dass Leute aus finanziellen Gründen sozial isoliert werden.
Nochmals zurück zum Kanton Bern. Er bezahlt für den Grundbedarf 977 Franken. Nach SKOS müssten es 1’031 Franken sein. Welchen Unterschied machen diese 54 Franken im Portemonnaie der Betroffenen?
Mit dem Grundbedarf müssen zum einen physische Bedürfnisse gedeckt werden (Essen, Kleider, Energie, Körperpflege und so weiter), zum andern soll auch ein soziales Leben möglich sein, also zum Beispiel ein Feierabendbier mit Kollegen, ein Billett für einen YB-Match. Dies ungefähr in einem Verhältnis 70:30. So gesehen kürzt der Kanton Bern den Sozialhilfebezügern de facto den Betrag, der es den Menschen ermöglicht, am sozialen Leben teilzuhaben. Man nimmt also in Kauf, dass Leute aus finanziellen Gründen sozial isoliert werden. Da frage ich mich schon, ob man nicht mittel- bis längerfristig viele Leute einfach aus der Gesellschaft ausschliesst und ob man da am Schluss wirklich etwas spart.
Es gibt ja auf verschiedenen Gebieten Möglichkeiten, Vergünstigungen zu erhalten Beispielsweise die Kulturlegi, Beiträge an Vereinsmitgliedschaften oder an Schulanlässe. Bieten diese Möglichkeiten keinen Ersatz?
Ich denke schon, dass es Aufgabe des Staates ist, diesen Grundbetrag so zur Verfügung zu stellen, dass man zu gewissen Leistungen kommt, ohne dass man überall als Bittsteller anklopfen muss. Das erwarte ich vom Sozialstaat. Andernfalls ist man immer und überall als Sozialfall gebrandmarkt. Es ist demütigend, wenn man sich immer wieder outen muss als jemand, der kein Geld hat.
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