«At some point, someone has to do something about something.»

von Christoph Reichenau 27. Januar 2020

Zwei Sterne leuchten in Felix Landerers Tanzstück «Leonce und Lena» nach Georg Büchner: Momoko Higuchi als Lena und Till Kuhnerts Bühnenbild. Christof Littmanns Musik treibt das Geschehen voran, gibt ihm Rhythmus und Stimmung. Ansonsten viel Farbe, Form, Bewegung ohne zwingenden Zweck. Schön – aber wozu?

1836. Georg Büchner, 23-jährig, ist in Strassburg. Er schreibt das Lustspiel «Leonce und Lena». In Europa herrscht die Restauration, die Wiederherstellung des politischen Zustands vor der französischen Revolution und Napoleon. Büchner ist von Giessen nach Veröffentlichung des «Hessischen Landboten» vor staatlicher Verfolgung hierher geflohen. Demnächst wird er nach Zürich reisen und dort wissenschaftlich arbeiten.

Georg Büchner, Arzt und Naturwissenschafter, wird knapp 24 Jahre alt. Er schreibt in rasendem Tempo die Erzählung «Lenz», die Dramen «Dantons Tod» und «Woyzeck» (Fragment) und eben «Leonce und Lena» (Uraufführung erst 1895). Büchner verficht die Bürger- und Menschenrechte, kämpft gegen die Monarchie und Kleinstaaterei, schreibt an gegen die Unterdrückung und für die Freiheit («Friede den Hütten! Krieg den Palästen!»).

«Leonce und Lena» ist eine Gelegenheitsarbeit. Der Verlag Cotta hatte einen Wettbewerb ausgeschrieben; Büchners Einsendung kam jedoch zu spät. Ins Stück packt er viel: Er macht sich lustig über das höfische Zeremoniell, die sinnentleere Beschäftigung, die arrangierte Hochzeit, die aus zwei Königreichen ein grösseres machen soll. Leonce, vom Prinz-Sein angewidert, protestiert durch Müssiggang und Flucht. Auch Prinzessin Lena entflieht dem royalen Korsett. Unterwegs treffen sie sich zufällig, ohne zu wissen, dass sie sich versprochen sind. Es wird Liebe. Schliesslich kehren sie zurück, heiraten zeremoniell und werden die, die sie sein sollen.

Eine Neuheit

Neben unverblümtem politischem Spott an der überkandidelten Kleinstaaterei steckt viel reiner Klamauk im Stück, das – Büchners Bedeutung zum Trotz – für mich nicht zum Schatz der Weltliteratur zählt. Vor ein paar Jahren hat Konzert Theater Bern Büchners «Woyzeck» poetisch inszeniert und gezeigt, welche Sprengkraft darin steckt. «Leonce und Lena» ist dagegen ein sanftes Säuseln.

Das Säuseln wird nun durch Felix Landerers seltsam unentschiedene Inszenierung im Ganzen harmloser, doch in einer Figur nicht. Das Tanzstück folgt Büchners Lustspiel, stärkt allerdings Lenas Bedeutung im Widerstand gegen das Sinnleere, Konventionelle, Bequeme am Hof. Das zeigt sich zu Beginn und am Schluss des Abends.

Zwei Schlüsselszenen

Einleitend tanzt Lena (Momoko Higuchi) in dunkler Einsamkeit mit verdrehten, suchenden Bewegungen, Abbild von Fragen und Ringen mit sich selbst. Ganz nah feiern in Licht und Luxus andere eine Party. Warum fällt mir da Antigone ein?

Am Ende dieselbe Szene. Nun kommt Leonce (Andrey Alves) dazu; eine Weile scheint die Zweisamkeit möglich, doch dann distanziert sich Leonce Zentimeter um Zentimeter von Lena und verschwindet schliesslich durch die Tür unter den Party People. Lena bleibt draussen allein. Was weiter geht, ist offen.

Die beiden Szenen machen für mich als Klammer die Bedeutung der Inszenierung aus. Dazwischen gibt es pausenlos Action, fesselnden Tanz in vielfältiger Bewegungssprache. In dichter Folge – man denkt an Büchners gehetztes Leben – rollt das Geschehen ab, das nicht restlos zu entschlüsseln ist und sein soll. Es wird herumgekaspert, es bilden sich Linien wie in der Revue, fantasievolle, farbige Kostüme (Franziska Ambühl und Melanie Häusler) lassen Glanz und Glamour aufblitzen.

Bühnenwunder

Glänzend in jeder Hinsicht auch die Bühne von Till Kuhnert. Mit wenigen Verschiebungen der Elemente entstehen neue Räume und Atmosphären. Die gold-glänzenden Wände, die präzis gesetzten Leuchten, die grosszügigen Fassaden, die intimen Kabinette rahmen die getanzten Szenen, akzentuieren die Stimmungen und ironisieren insgesamt das Spiel mit Pomp und Leere. Überzeugend.

Starke Frauenfiguren

Im Mittelpunkt des Abends stehen Frauen. Büchners König hat Felix Landerer ersetzt durch die Königin. Fast wir beim Schach ist sie figurativ gestaltet mit einer überdimensionierten roten Krone, die im Grund ein umgekehrter Reifrock ist: Auch die Herrscherin ist Gefangene ihrer Konvention.

Die grössere Präsenz ertanzt sich – solo, im pas de deux mit Leonce, in Gruppenkonstellationen, bei der Hochzeit und wiederum solo – Prinzessin Lena. Von ihr geht Kraft aus, die Energie des Zweifels, der Mut zum unbequemen Nein, das vielleicht zur Freiheit führt. («Die Fähigkeit, das Wort Nein auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit», hat Albert Camus geschrieben, hundert Jahre nach Büchner.) Während bei Büchner Lena schliesslich mitmacht, kündet sie in Landerts Inszenierung den Frieden auf, bleibt ohne Leonce allein – mit offenem Ausgang. Wäre nicht Leonces Abgang, man könnte Lenas Handeln als Megxit im Hause Windsor verstehen.

«At some point …»

Ein Erzähler (Winston Ricardo Arnon) führt durch die Geschichte. In Büchners Stück gibt es ihn nicht. Hier hilft er uns beim Zurechtfinden in den Irrungen und Wirrungen. Er parodiert, spöttelt, höhnt, doch nie wird er ganz krud. Sein oft wiederholter Spruch «At some point, someone has to do something about something» kommentiert das Geschehen, mahnt, kritisiert.

Was bleibt? Viel Tanz, eine Augen- und Ohrenweide. Der Versuch, ein schwer einzuordnendes Lustspiel lustig zu halten und ernst zu machen. Etwas Feminismus. Eine starke Frauenfigur. Und halt doch im Grunde kaum mehr als eine etwas unkonventionelle Revue. Es bleibt für mich wenig. Das liegt am Stück und an der Inszenierung. «At some point …» – man darf Winston Ricardo Arnons Spruch auf den ganzen Abend beziehen.

Nachspann

Nach einem Tag Abstand wird klar: Man kann das auch anders sehen. Man kann ehrlich die Kunst der Tänzerinnen und Tänzer bewundern und mit ihrem Bewegungsrepertoire «mitgehen», man kann über den Reichtum der Kostüme staunen, man kann sich am ebenso prächtigen wie stimmigen Bühnenbild erfreuen, man kann auf die nuancierte Musik hören und sich von ihren gleichförmigen Beats wegtragen lassen – dann geniesst man einen schönen Tanzabend. Es ist nicht nötig, dem Lustspiel von 1836 folgen zu wollen und auf die Unterschiede zu achten, welche die Inszenierung herausarbeitet. Jede Vorlage muss geändert werden, indem man sie in eine andere Kunstgattung überführt. Und Tanz ist ja in erster Linie körperlicher Ausdruck, nicht literarische Äusserung. Lassen wir also Spitzfindigkeiten und freuen uns an dem vielen Guten, das die Kompagnie bietet. Dann lässt sich der Untertitel des Abends «nach Georg Büchner» auch anders lesen: Nicht im Sinne von «gemäss», sondern einfach als «zeitlich später». Dann geht es um eine vage Erinnerung an Royalismus in vorrepublikanischer Zeit. Und dann zündet so richtig die ungeplante Pointe, die Meghan und Harry mit ihrer Distanzierung vom Haus Windsor setzen. Heute.