Appell für menschlichere Asylverfahren

von Rahel Schaad 6. Dezember 2021

Abgewiesene Asylsuchende, die sich bereits während einem langjährigen Asylverfahren integriert haben, sollen legalisiert werden. Das fordert eine Petition, die heute an die Staatskanzlei des Kantons Bern übergeben wird.

Im vergangenen Frühjahr wohnte Lokman in einer Wohnung im Liebefeld, ist Mitglied in einem Badmintonclub, verfügt über ein breites Netzwerk, spielt mit Freunden am Sonntag Schach und bereitet sich auf die Deutsch-Abschlussprüfung des Sprachniveaus B2 vor. Zu diesem Zeitpunkt lebt Lokman seit siebeneinhalb Jahren in der Schweiz und verfügt über zwei Stellenangebote, die er nicht annehmen darf, weil er als abgewiesener Asylsuchender unter einem Arbeitsverbot steht.

Ende April 2021 ändert sich die Situation für Lokman schlagartig: Der Migrationsdienst des Kantons Bern teilt Lokman mit, dass einer Ausreise aufgrund neu ausgestellter Identifikationspapiere der bangladeschischen Botschaft nun nichts mehr im Wege stehe und dass er sich zur freiwilligen Rückkehrberatung melden solle. Die gesetzten Fristen lässt Lokman verstreichen. Er fürchtet um sein Leben, müsste er nach Bangladesch zurückkehren. Im Juli steht eines Tages die Polizei vor Lokmans Tür, er wird fest- und in Ausschaffungshaft genommen. Den Sommer verbringt er im Ausschaffungsgefängnis in Moutier, mit verschiedensten Mitteln versuchen die Behörden, Lokman zur Ausreise zu drängen. Später wird er ins Rückkehrzentrum Aarwangen verlegt. Dort lebt er seither im Mehrbettzimmer und mit acht Franken Nothilfe pro Tag. Jeden Morgen muss er seine Anwesenheit mit einer Unterschrift bestätigen.

Der Schock über das jähe Aus-dem-Alltag-gerissen-Werden und den behördlichen Umgang mit Lokman trifft nicht nur ihn selbst, sondern auch sein ganzes Umfeld. Aus der Bestürzung formiert sich eine Gruppe von Freund*innen und Unterstützer*innen, die um das Bleiberecht des Freundes kämpfen – Journal B berichtete. Doch Lokmans Geschichte ist kein Einzelfall. Nun haben die Unterstützer*innen von Lokman zusammen mit anderen eine Petition lanciert, die «ein humanes Asylverfahren für Menschen aus altrechtlichen Verfahren» fordert. Der komplizierte Titel widerspiegelt die Komplexität der Thematik. Worum geht es also?

Ein Erbe aus dem alten Asylrecht

Im März 2019 trat in der Schweiz das beschleunigte Asylverfahren in Kraft. Mit diesem sollten alle Asylverfahren innerhalb von 140 Tagen durchgeführt und abgeschlossen werden. Dazu werden die Asylbeantragenden in einem der sechs Bundesasylzentren untergebracht und isoliert. Asylsuchende, deren Gesuche angenommen und Fluchtgründe anerkannt werden, erhalten Asyl und werden einem Kanton zugewiesen, der für ihre Integration zuständig ist. Menschen, deren Asylgesuch abgewiesen wird und die aufgefordert werden die Schweiz zu verlassen, werden bis zu ihrer Ausreise in sogenannten Rückkehrzentren untergebracht. Dort erhalten sie lediglich Nothilfe (siehe Infokasten rechts) und unterliegen einem Arbeits- und Ausbildungsverbot. Eine Integration soll dadurch verunmöglicht werden.

Das alte Asylrecht hinterlässt bestens integrierte Menschen, die seit mehr als 5 Jahren in die Nothilfe gezwungen werden.

Vor dieser Revision des Asylrechtes dauerten Asylverfahren oftmals sehr viel länger. Dies konnte dazu führen, dass Personen, deren Asylgesuche schliesslich abgewiesen wurden, bereits mehrere Jahre an einem Ort lebten und sich ein Leben mit Struktur und ein soziales Umfeld aufgebaut haben. Das alte Asylrecht hinterlasse damit «bestens integrierte Menschen, die seit mehr als 5 Jahren in die Nothilfe gezwungen werden», konstatieren die Petitionsführer*innen.

Integrationskriterien anstatt Aufenthaltsdauer

Die Petition fordert nun, dass der Situation dieser nach altem Recht abgewiesenen Asylsuchenden Rechnung getragen werden müsse. Personen, die bereits mehr als fünf Jahre in der Schweiz sind, sollen ein vereinfachtes Härtefallverfahren nach einheitlichen Integrationskriterien durchlaufen können. Zwar besteht bereits heute die Möglichkeit, Personen mit einem negativen Asylentscheid eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, wenn ein sogenannter «persönlicher Härtefall» vorliegt. Die derzeitige Praxis des Staatssekretariats für Migration (SEM) gegenüber Härtefallgesuchen ist jedoch überaus strikt. Während laut Gesetz bereits ab fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz ein Härtefall vorliegen kann, anerkannt das SEM kaum ein Gesuch unter zehn Jahren Aufenthalt. Auch Lokmans Härtefallgesuch wurde aus diesem Grund nicht stattgegeben.

Diese Handhabung hat für zahlreiche Personen ein jahrelanges Verbleiben in der Nothilfe zur Folge. Laut einem Bericht von Terre des Hommes Schweiz lebten 2019 gut ein Viertel aller Nothilfebeziehenden seit über vier Jahren in der Schweiz. Ausserdem seien kaum Bezugs-Abgänge von Menschen zu verzeichnen, die noch vor dem März 2019 – also nach dem alten Asylrecht – ihren Asylantrag gestellt hätten.

Humanistisch und wirtschaftlich unsinnig

Aline Trede, Berner Nationalrätin der Grünen bezeichnet die derzeitige Praxis aus wirtschaftlicher und humanistischer Sicht als «absolut unsinnig»: «Wir haben hier zahlreiche Menschen, die arbeiten wollen und können. Stattdessen stehen sie unter einem Arbeitsverbot und sind von der Nothilfe abhängig.»

Die derzeitige Praxis ist aus wirtschaftlicher und humanistischer Sicht absolut unsinnig.

Trede weiss, wovon sie spricht. Ihr Unternehmen hatte bis vor Kurzem eine Praktikantin angestellt, die sich in einem Asylverfahren befand. «Mira* musste drei Jahre auf ihren Asylentscheid und danach noch einmal anderthalb Jahre auf die Beantwortung der Beschwerde warten», erzählt Trede. Während dieser Zeit habe sie Deutsch gelernt, Computerkurse besucht und ein sechs-monatiges Praktikum absolviert. Mit dem doppelten Negativ-Entscheid wurde Mira nach knapp fünf Jahren ein Arbeitsverbot erteilt und angewiesen, die Schweiz zu verlassen. «Mira will arbeiten und wir könnten sie bestens gebrauchen. Ihre Töchter gehen in die reguläre Schule, schreiben super Noten und sind bestens integriert. Und jetzt sollen sie in ein Gebiet zurückgeschafft werden, wo momentan Bürgerkrieg droht», empört sich Trede: Das sei unmenschlich.

Auch der Berner Filmemacher Roman Droux setzt sich für eine vereinfachte Regularisierung von altrechtlich abgewiesenen und in Nothilfe verbleibenden Personen ein. Er hat die Geschichte Lokmans und den Kampf um dessen Bleiberecht filmisch dokumentiert und daraus eine öffentlich zugängliche Web-Serie gemacht. «Möglichst viele Menschen sollten über die teils menschenunwürdigen Vorgänge im schweizerischen Asylverfahren sensibilisiert werden», findet Droux. «Die Perspektivenlosigkeit in der Isolation und Nothilfe macht die Menschen krank.» Dies führe für die Betroffenen aber auch für die gesamte Gesellschaft zu grossen Problemen. Als «Kampf gegen legales Unrecht im Schweizerischen Asylwesen» betitelt er denn auch sein filmisches Logbuch zum Fall Lokman.

Trede, die sich selbst als starke Verfechterin des schweizerischen Rechtsstaates bezeichnet, knüpft an die kritische Rhetorik gegenüber dem schweizerischen Asylrecht an: «Manchmal fragt man sich schon, ob wir da wirklich einen Rechtsstaat haben.» Durch das eigene Miterleben des Falles ihrer Praktikantin habe sie Dinge gesehen, die sie nie für möglich gehalten habe.

Ein wichtiger Schritt

Die Petition appelliert an verschiedenste Akteure der Politik und des schweizerischen Asylwesens, unter anderen auch an Pierre Alain Schnegg von der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion, an den amtierenden Staatssekretär für Migration, Mario Gattiker, aber auch an die Bundesrätin Karin Keller-Suter sowie an die Politiker*innen des National- und Ständerats. Sie alle werden dazu aufgefordert, langfristigen Integrationsperspektiven mehr Gewicht zu geben als kurzfristigen Zwangsmassnahmen. Dadurch sollen menschlichere Verfahren im Asylwesen geschaffen werden. Heute um 16 Uhr soll die Petitionsübergabe an die Staatskanzlei des Kantons Bern stattfinden.

Manchmal fragt man sich schon, ob wir da wirklich einen Rechtsstaat haben.

Droux und Trede sind sich beide einig, dass mit der geforderten Regularisierung der altrechtlich abgewiesenen Asylsuchenden nicht alle Missstände im schweizerischen Asylwesen aus dem Weg geschaffen würden. Aber es wäre «ein wichtiges Zeichen für die Humanität und ein Schritt in die richtige Richtung», so Trede.

 

*Der Name wurde abgeändert.