Appell für eine strategische Stadtplanung

von Christoph Reichenau 29. Oktober 2013

Der Druck auf Stadt und Region Bern wächst. Es braucht mehr Wohnraum. Viel mehr Wohnraum. Woher kommt dieser Druck? Und nehmen die Behörden ihn auf? Ein Versuch, zu verstehen.

Machen wir eine kleine Rechnung. Ständig wandern Menschen aus der Schweiz aus und in die Schweiz ein. Per Saldo übersteigt die Zahl der Zuwandernden jene der Auswanderer um etwa 50’000 pro Jahr. 50’000 Personen kommen jährlich neu in die Schweiz und bleiben hier für einige Zeit, auf Zusehen, für immer.

Die Schweiz braucht diese Menschen, ob sie nun aus Deutschland, Portugal, Kroatien oder Somalia kommen. Sie wischen Strassen, bauen Häuser, bedienen in Restaurants, pflegen Kranke, stellen medizinische Diagnosen, forschen in chemischen Labors, dozieren an Universitäten. Es sind so viele, wie in der Stadt Luzern Leute leben. Oder in der Stadt St. Gallen. In zehn Jahren machen sie einen Zehntel der heutigen Schweizer Bevölkerung aus.

Dann kämen in zehn Jahren 25’000 von ihnen in die Region Bern-Mittelland. Mindestens.

Christoph Reichenau

Rechnen wir weiter. Im Kanton Bern leben derzeit rund 990’000 Menschen, also ein Achtel der Schweizer Bevölkerung. Die Region Bern-Mittelland – sie umfasst mit der Stadt Bern 102 Gemeinden in der Mitte des Kantons – zählt etwa 400’000 Bewohnerinnen und Bewohner. Dies ist nach Köpfen ein Zwanzigstel der Schweiz.

Nehmen wir an, die Zuwandernden verteilten sich gleichmässig auf unser Land. Dann kämen in zehn Jahren 25’000 von ihnen in die Region Bern-Mittelland. Mindestens, denn in unserer Region, dem viert- oder fünftstärksten Wachstumsmotor der Schweiz, gibt es überproportional viele Arbeitsplätze.

Nehmen wir weiter an, etwa die Hälfte der neu Hinzukommenden finde Unterschlupf bei Familienangehörigen, Freunden, Bekannten, die bereits hier leben. Dann bleiben immer noch gegen 13’000 Menschen, die in unserer Region Wohnungen benötigen. Multipliziert mit der durchschnittlichen Wohnfläche pro Person in unserem Land von 50 Quadratmetern ergibt dies einen Wohnflächenbedarf von 625’000 Quadratmetern in zehn Jahren.

Bedarf an 500’000 Quadratmetern Wohnraum

Natürlich, denken wir weiter, könnten es auch weniger sein. Weniger, weil vielleicht nicht alle Menschen von unseren seit den 1950er Jahren enorm gewachsenen Ansprüchen ausgehen. Weniger, weil bestimmte Bauformen – genossenschaftlicher Wohnungsbau, Verdichtung, gutes Verhältnis von Privat- und Allgemeinräumen, eine sinnvolle Beziehung der Wohnbauten zum öffentlichen Raum – andere Lebensformen und einen geringeren Raumbedarf zur Folge haben können.

Vielleicht reduziert dies alles den Bedarf an Wohnfläche auf 40 Quadratmeter pro Person oder 500’000 Quadratmeter insgesamt. Wichtig ist auf jeden Fall: Es braucht Wohnungen nicht ausschliesslich für die stets erwähnten «guten Steuerzahler», sondern Wohnungen für das ganze soziale Spektrum der Bevölkerung.

Halten wir als Zwischenergebnis fest: Mindestens eine halbe Million Quadratmeter Zusatzwohnfläche durch Zuwanderung in zehn Jahren. Und eröffnen wir eine weitere Rechnung: 150’000 Pendlerinnen und Pendler strömen täglich in die Stadt Bern an ihren Arbeits- oder Ausbildungsplatz. Sie kommen im Auto, mit dem öffentlichen Verkehr, viel zu wenig mit dem Velo. Sie arbeiten hier und begeben sich am späten Nachmittag und am Abend auf den Weg nach Hause.

Auch dank der Pendlerinnen und Pendler ist Bern ein wichtiger Werkplatz mit blühendem Gewerbe und – ebenso bedeutend – ein vielfältiger Bildungsplatz mit einem reichhaltigen und hochstehenden Angebot auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe.

An den Kapazitätsgrenzen angelangt

Dank der Pendler besteht eine gewisse Balance an Lebensqualität zwischen dem urbanen Zentrum und seiner Agglomeration sowie teilweise weitentlegenen Dörfern und Weilern auf dem Land, in der Peripherie. Strassen und Schienen verbinden die Wohngegenden und das Arbeitszentrum. Strassen und Schienen, Bahnhöfe und Parkplätze sind mittlerweile an den Kapazitätsgrenzen angelangt. Fahrpläne lassen sich kaum weiter verdichten, Züge kaum weiter vergrössern, der öffentliche Raum ist begrenzt.

Nach dem allgemeinen und teilweise diffusen Empfinden vieler muss sich etwas ändern.

Christoph Reichenau

Nach dem allgemeinen und teilweise diffusen Empfinden vieler muss sich etwas ändern. Die öffentlichen Finanzen zeigen eine Grenze des weiteren Ausbaus auf. Und die Diskussion über eine höhere Kostenbeteiligung der Pendlerinnen und Pendler an den von ihnen verursachten Mobilitätskosten (Stichworte: nach Tageszeit differenzierte Bahnpreise, teureres Generalabonnement, Road- oder Mobility-Pricing, Erhöhung der Gebühr für die Autobahnvignette) macht deutlich, dass die Vorstellungen für eine politische Lösung weit auseinandergehen. Berücksichtigt man weiter Anliegen der Umwelt, des Klimaschutzes, der Nachhaltigkeit, schwindet die Hoffnung auf einfache Lösungen weiter.

Und doch benötigen wir Lösungen, denn zusätzlich wächst ein Bedürfnis nach Arbeiten und Wohnen in naher Nachbarschaft, nach Teilhabe an Urbanität auch bei Familien mit kleineren Kindern, nach einer anderen Nutzung der Zeit, die fürs Pendeln eingesetzt werden muss.

Wunsch nach Urbanität, Begrenzung der Mobilität

Es gibt also neben der Zuwanderung einen zweiten Druck auf den Wohnbau in Stadt und Region Bern: einen (individuellen) Wunsch nach Urbanität und einen (kollektiven) Bedarf an Begrenzung der täglichen Mobilität. Nehmen wir an, die Zahl der Arbeitspendler (nicht jene der Ausbildungspendler) von ausserhalb der Region solle in 10 Jahren um 20 Prozent reduziert werden. Nehmen wir an, diese Arbeitspendler machten einen Drittel der gesamten Pendlerzahl aus. Dann müsste ein Fünftel von 30’000 Pendlern in zehn Jahren in unserer Region wohnen. Das sind 6’000 Personen. Einige sind allein stehend, andere haben Partnerinnen oder Partner, weitere kämen mit Kindern. Insgesamt würden aus 6’000 möglicherweise 10’000 oder 12’000 Personen.

Diese Zahl kommt zu der von knapp 13’000 Zuwanderern hinzu. Die halbe Million Quadratmeter fehlende Wohnfläche vergrössert sich folglich auf 1 Million oder mehr. In unserer Region. In zehn Jahren. Als Ergebnis von Annahmen, die an der unteren Grenze des bekannten Bedarfs liegen, in jedem Fall aber nicht alarmistisch sind. Und im Wissen darum, dass in diese Überlegungen längst nicht alles eingeflossen ist, das die Entwicklung mitbestimmt.

Haben wir dafür Lösungsansätze?

Sind wir uns dessen bewusst? Bilden solche oder vergleichbare oder ganz andere, vielleicht zutreffendere Annahmen die Grundlage der Stadtentwicklung, der Stadtplanung, der regionalen Bau- und Verkehrsplanung? Haben wir dafür Lösungsansätze, traditionelle oder neuartige? Gibt es kollektive Bilder unserer Stadt und Region in zehn Jahren?

Haben wir den politischen Willen für die strategische Planung?

Christoph Reichenau

Kann dieser Zeitraum – die Schulzeit eines Kindes – realistisch in unserem Politsystem überhaupt ins Auge gefasst werden? Sind entsprechend Wohnformen, Wohnbauten, neue Quartiere oder Dörfer «gedacht», sind dafür Planungszonen ausgeschieden? Sind Bauvorhaben in Vorbereitung? Gibt es Investoren? Reicht die Zeit für das Prozedere von Planung über Baueingabe bis zur Errichtung der Gebäude? Und gibt es in der Konsequenz auch Vorstellungen für Kitas, Kindergärten, Schulen, Quartier- und Kulturzentren, Einkaufsgelegenheiten usw. für die neuen Bernerinnen und Berner?

Es fehlt der Gesamteindruck

Machen wir uns Gedanken, ob sie die Stadt verändern, bereichern oder einfach vergrössern werden? Und gewöhnen wir uns langsam daran, dass diese Entwicklung, dieser Prozess nicht ein einmaliges grosses Projekt für die kommenden zehn Jahre sein dürfte, sondern lediglich eine erste Etappe, der in der nächsten Dekade eine weitere folgen wird? So gesehen sind Vorhaben wie die Planung Marzili, die Planung Viererfeld, die Waldstadt einzelne Steine in einem als Gesamteindruck fehlenden Mosaik.

Haben wir in Bern und in der Region Bern-Mittelland eine strategische Planung? Haben wir die Instrumente, den Apparat und – dies vor allem – den politischen Willen in den Behörden und in der Bevölkerung? Wenn alles besteht – wann wird es wie dargelegt? Falls es teilweise oder ganz fehlt – wer gleist es wie auf?

Journal B will diesen Fragen weiterhin nachgehen. Wir laden alle Interessierten ein, mitzudenken.