Die Sendereihe «DU bist Radio» (DBR) gibt Menschen mit besonderen Lebensgeschichten ihre Stimme zurück. Die Stimme, die ihnen oft zu Unrecht und aufgrund vorherrschender Vorurteile abgesprochen wurde. Das Mikrophon von DBR zeichnet leise Geschichten auf, die Vorurteile und Ängste bewältigen helfen und zeigen: Die Gefängnisinsassin und das Strassenkind, der Suchtkranke und die mehrfachbehinderte Frau – sie alle sind in erster Linie Menschen mit persönlichen Erfahrungen, die genauso gut hätten unsere eigenen Erlebnisse sein können.
Autismusbetroffene in Zollikofen «sind» Radio
In diesen Tagen besucht das DBR-Team die Stiftung Autismuslink in Zollikofen. Zusammen mit Menschen, die mit Autismus leben, produzieren sie eine Radiosendung – was darin thematisiert wird, liegt allein in der Entscheidung der beteiligten Autistinnen und Autisten, den Produzentinnen und Produzenten der aktuellen Sendung. Erste Brainstorming-Sitzungen führten bereits vielversprechende Beitragsideen zu Tage: So könnte in den zwei Sendungen, die je eine Stunde dauern werden, etwa ein Reisebericht über Schottland zu hören sein, vielleicht wird es eine Strassenumfrage geben, einen Beitrag über eine Studentenvereinigung, spannend wäre eine Talkrunde zu einem Fantasyfilm oder musikalische Beiträge auf dem Schlagzeug und der Blockflöte. Ebenfalls Thema werden die Herausforderungen und Hürden sein, mit denen Menschen mit Asperger-Syndrom im Umgang mit ihren Mitmenschen zu kämpfen haben, und es soll konkreten Fragen nachgegangen werden wie zum Beispiel denjenigen nach den idealen Berufen und Arbeitsbedingungen für Frauen und Männer, die diese besondere Lebensgeschichte teilen.
«Wenn wir keine Fragen stellen, erhalten wir andere Antworten. Dann entstehen häufig Einblicke und Geschichten, die wir niemals mit unseren Fragen hätten anstossen können.»
Ralf Stutzki, DBR-Redaktionsleiter und Produzent
Die Journalistinnen und Journalisten des DBR-Teams vermitteln den Radio-Neulingen das Handwerk, treten während der Produktion der Beiträge bewusst einen Schritt zurück und nehmen keinerlei Einfluss auf den Inhalt der entstehenden Sendung. «Wir kommen mit möglichst viel Vorwissen über die zentralen Themen der betroffenen Gesellschaftsgruppen, aber ohne vorgefertigte Fragen an den Begegnungsorten an», sagt Ralf Stutzki, Redaktionsleiter und Produzent von DBR. Ein fundiertes Hintergrundwissen sei unabdingbar, um auf die allenfalls besonderen Bedürfnisse der Menschen mit ihren speziellen Lebensumständen eingehen zu können. Vorbereitete Fragen entstehen jedoch stets auf der Basis von Vorwissen und Vorstellungen über das Ergebnis. Dieses soll jedoch in der Gänze von den besuchten Menschen geformt werden. «Wenn wir keine Fragen stellen, erhalten wir andere Antworten. Dann entstehen häufig Einblicke und Geschichten, die wir niemals mit unseren Fragen hätten anstossen können.»
Es liegt in der Verantwortung der Gesellschaft
Geschichten, die erzählt werden sollen und gehört werden müssen, findet Stutzki. Dass gewisse Menschen aufgrund ihrer speziellen Lebensumstände nicht die Möglichkeiten haben, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, findet er nicht richtig: «Woher nehmen wir uns eigentlich das Recht, diesen Menschen beispielsweise den freien Zugang zu den Medien zu verwehren, nur weil sie vielleicht krank, weggesperrt oder anders sind als wir? Lässt sich das moralisch begründen? Eine solidarische Gesellschaft hat eine Verantwortung, die über die körperliche und seelische Behandlung von Bedürftigen hinausgeht.» Gerade in der Schweiz herrsche zwar ein grosses Therapieniveau, am Ende stünden die Betroffenen dennoch oft alleine und ratlos da. Deshalb bringen er und sein Team jenen Menschen, die kein Mikrophon erreichen können, das Mikrophon in ihre Welt. Auch um diese durch das Aufzeigen der vielen Parallelen mit der unsrigen zu verbinden – und sei es nur für die drei Sendestunden von DBR.
«Der Mensch wird am Du zum Ich»
Damit das Projekt jedes Mal aufs Neue gelingt und sich die besuchten Menschen am Mikrophon wohlfühlen, braucht es viel Vorarbeit und grosses Fingerspitzengefühl. Die Schranken zwischen den Betroffenen und den Macherinnen und Machern von DBR müssen innert kurzer Zeit abgebaut werden. «Wir müssen ihnen vermitteln, dass sie uns ihre Geschichten erzählen können. Sie bestimmen die Regeln, nicht wir. Wir verstehen uns lediglich als journalistisch-handwerkliche Handlanger», sagt Stutzki.
«Die Komponente des Mensch-Seins verbindet uns zutiefst.»
Ralf Stutzki, DBR-Redaktionsleiter und Produzent
Die so entstehenden Sendungen verhelfen aber nicht nur den Produzentinnen und Produzenten zu einer Stimme, sondern laden die Zuhörerschaft ein, sich auf einen neuen Blickwinkel einzulassen und ihre Vorurteile gegenüber den berichtenden Menschen abzubauen.
Es scheint auf einmal sehr vermessen zu glauben, dass es sich für die Gesellschaft nicht lohne, sich mit den Menschen an ihrem Rande auseinanderzusetzen. «Der Mensch braucht schliesslich ein Gegenüber, um zu erfahren, dass er selber existiert», sagt Stutzki unter Bezugnahme auf die dialogische Philosophie nach Martin Buber. Des Religionsphilosophen und Ethikers bekannter Satz – «Der Mensch wird am Du zum Ich» – habe das DBR-Konzept massgeblich geprägt. «Wir wollten ausprobieren, ob das auch stimmt», erzählt Stutzki, der inzwischen eine Antwort gefunden zu haben scheint: «Während der Arbeit mit den Menschen mit unterschiedlichsten und oftmals sehr schwierigen Lebenssituationen haben wir festgestellt, dass bei allem, was uns voneinander trennt, die Komponente des Mensch-Seins uns weiterhin gemeinsam zutiefst verbindet. Und gerade hier in dieser Gemeinsamkeit liegt ein ganz grosses Potential. Letztendlich ist ein jeder und auch dieser Mensch ein wichtiger Ankerpunkt, der als mein Gegenüber mich herausfordert und bestimmt.»