«Der vergessene Prozess» heisst das Stück von Gornaya, der Trägerin des Literaturpreises 2018 des Kantons Bern und früheren Hausautorin von Konzert Theater Bern. Es befasst sich mit einem Gerichtsverfahren aus den 1930er-Jahren, in welchem ein Berner Gericht das antisemitische Pamphlet «Protokolle der Weisen von Zion» als «Schundliteratur» qualifizierte und dessen Verbreitung mit einer Busse ahndete.
Die Autorin versucht nicht, den historischen Prozess zu rekonstruieren, sondern sie skizziert in kurzen Szenen dessen Gegenstand und das gesellschaftliche Umfeld: Die Entstehungsgeschichte des antisemitischen Machwerks, die auch in Schweizer Amtsstuben grassierende Judenfeindlichkeit, den sich in der Schweiz immer stärker ausbreitenden Nationalsozialismus und den schwierigen Versuch der jüdischen Gemeinden, sich auf rechtlichem Wege gegen diese Verleumdungen zur Wehr zu setzen. Es muss viel Wissen vermittelt werden in diesen Szenen, um das Aussergewöhnliche an diesem «vergessenen Prozess» deutlich zu machen.
Um möglichst viele Aspekte des historischen Umfeldes begreifbar zu machen, wechseln die fünf Schauspieler*innen immer wieder ihre Rollen.
Dabei umgeht das Stück durchaus geschickt die Gefahr, zur historischen Abhandlung zu werden. Zeitsprünge durchbrechen die Abfolge des Geschehens. So werden die judenfeindliche schweizerische Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg ebenso thematisiert wie die zynische Aussage von Bundesrat Delamuraz, Auschwitz liege nicht in der Schweiz. Auch Parallelen zu antisemitischen Haltungen in der Auseinandersetzung um die Bekämpfung der Corona-Pandemie oder zur Diskussion um ein mögliches Verbot von Nazi-Symbolen fehlen nicht.
Zahlreiche Rollenwechsel
Die Klammer der Theaterhandlung bildet die von Heidi Maria Glössner dargestellte Figur der Odette Brunschvig, der Lebens- und Kampfgefährtin des Anwalts der Klägerseite. Auf ihrer Erinnerung und ihrem Zeugnis baut auch die 2016 erschienene Biografie von Georges Brunschvig auf, welche die Historikerin Hannah Einhaus unter dem Titel «Für Recht und Würde» veröffentlicht hat und die aus Anlass des Bühnenstückes neu aufgelegt wird. Es ist ein starker Einfall der Autorin des Theaterstücks, dieser Odette Brunschvig, das erste und letzte Wort in diesem Jahrzehnte übergreifenden Stück zuzuweisen. Es sind die Worte «Hass» am Anfang und «Salam» am Ende.
Um möglichst viele Aspekte des historischen Umfeldes begreifbar zu machen, wechseln die fünf Schauspieler*innen immer wieder ihre Rollen. Sichtbar gemacht wird dieser Personentausch durch rasch ausgeführte Veränderungen von Requisiten wie das Aufkleben eines Schnurrbarts, das Aufsetzen eines Hutes oder einer Brille oder auch durch Veränderungen in der Sprechweise. Die Hauptlast dieser Rollenwechsel tragen Wowo Habdank und Tobias Krüger, die jeweils in Sekundenschnelle und für das Publikum sofort nachvollziehbar, vom Angeschuldigten zum Verteidiger oder zu einer der zitierten historischen Persönlichkeiten mutieren. Demgegenüber tragen Jeroen Engelsman als Anwalt der Klägerseite und Kornelia Lüdorff als Gerichtspräsident die Handlung voran und treten nur ausnahmsweise in einer andern Rolle auf.
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Die Konzentration des Stücks auf das gesellschaftliche Umfeld des Prozesses hat auch zur Folge, dass die für den historischen Verlauf des Prozesses wichtigen juristischen Aspekte im Theaterstück keine grosse Bedeutung haben. Die Tatsache, dass die beiden in erster Instanz verurteilten Verteiler des Pamphlets vom Obergericht freigesprochen wurden, weil sich der Begriff der «Schundliteratur» nach Meinung der dortigen Richter nur auf Pornografie bezog, wird zwar erwähnt, aber zu Recht nicht weiter diskutiert. Das juristische Kernproblem, dass nämlich die Rechtsordnung damals noch keinerlei Schutz gegen kollektive Verleumdungen bot, wurde schon im ersten Teil des Stückes ausgebreitet.
Schwieriges politisches Umfeld
Natürlich kann ein Theaterabend zu einem solchen Thema auch nicht auf einen direkten Bezug zur Aktualität in Israel und Palästina verzichten. So darf dann der Anwalt Georges Brunschvig nach seinem nur angedeuteten Schlussplädoyer im Prozess gleich noch ein zweites Plädoyer halten. Es ist ein flammender Aufruf zum Frieden. Dabei ist aber wohl für alle Anwesenden klar, dass es sich angesichts der Katastrophe, die sich zeitgleich in Gaza und im Westjordanland abspielt, letztlich nur um einen hilflosen Aufschrei handeln kann.