Anlauf in eine helle Nacht

von Christoph Reichenau 17. Juni 2022

Zehn Stunden Theater, Gespräch, Lesung und Musik. Das bietet die «Lange Nacht der vergessenen Stücke» am morgigen Samstag.

Um 16 Uhr beginnt im Stadttheater am Samstag die «Lange Nacht der vergessenen Stücke» mit einem dichten Programm. Um 22 Uhr leitet ein Konzert der «Sirens Of Lesbos» über zur Aftershowparty in der Vierten Wand mit der Schauspielerin Yohanna Schwertfeger als DJ.

Der Anlass ist die Swiss Edition eines in Deutschland erprobten Formats, eine Zusammenarbeit mit dem Zürcher Online Magazin «Republik» und dem Robert Walser Zentrum Bern. FAZ-Redaktor Simon Strauss und Regisseur Zino Wey initiierten das Spektakel mit dem Schauspiel Bern.

Vielfältige vergessene Dramatik

Wiederentdeckt und wiedererweckt werden Werke von Schweizer Autor*innen. Etwa «Wer wirft den ersten Stein?», das 1944 uraufgeführte Dialektstück der legendären «Cornichon»-Kabarettistin Elsie Attenhofer über Antisemitismus in Europa und der Schweiz. Von Annemarie Schwarzenbach, der Fotografin, Journalistin und Reiseschriftstellerin zu sehen ist das Drama «Cromwell» (1932) über den englischen Feldherrn, Politiker und Aufrührer im 17. Jahrhundert.

Kein Theaterstück, sondern ein Dialog-Roman ist George Sands «Gabriel» über Geschlechterrollen, welche die im 19. Jahrhundert unkonventionell lebende Autorin selbst frei interpretierte und lebte. Schülerinnen und Schüler der Klasse 25a am Gymnasium Lerbermatt stellen Minidramen, Szenen und Dialoge von Robert Walser vor. Am weitesten zurück führt «Johannes der Täufer», eine Art Mysterienspiel des Geistlichen Johannes Aal, das 1596 uraufgeführt wurde.

Weitere Stücke stammen von Heinrich Henkel, Dagny Juel, Marina Zwetajewa und Marieluise Fleisser. Sie sind zu sehen im Tunnel unter der Nägeligasse, im Keller, in der Requisitenwerkstatt, der Lounge, in den Foyers, der Mansarde, im Ballettsaal, auch draussen mit dem Schauspielmobil, fast alle je zweimal eine halbe Stunde.

Verdrängung und Flucht

Parallel dazu gibt es von 16 bis 20 Uhr im Foyer des ersten Stocks je halbstündige Gespräche mit Reto Sorg, Jonas Lüscher, Martin Bieri und Ariane von Graffenried, Meral Kureyshi und der Kultursekretärin Franziska Burkhardt unter dem Generalmotto „Bühne und Gesellschaft – Mechanismen der Verdrängung?” mit einer Abschlussdiskussion. Es wird spannend sein zu erfahren, wer für wen was und warum verdrängt und wie Verdrängung funktioniert.

Bevor dann um 20 Uhr auf der grossen Bühne «Herzstück» beginnt, eine – wie es heisst – musikalische Ensemblelesung mit Texten von Maja Beutler, Otto F. Walter, Paul Haller und Anna Gmeyner, letztere eine im frühen 20. Jahrhundert von Österreich nach England geflüchtete Jüdin, die unter anderem auch unter den Pseudonymen Anna Reiner und Anna Morduch Kinderstücke, Dramen und Erzählungen schrieb.

Jetzt sind wir dran

Die Segel sind gesetzt. Proviant gibt es genug. Wie weit die Schiffe in See stechen, wo sie landen, bestimmen weitgehend wir, das Publikum. Wir sind eingeladen, zu entdecken, zu diskutieren und Wind zu erzeugen für Reisen in eine vergangene Welt, deren Stücke für unsere Zeit neu interpretiert werden. Wind für Reisen in eine Vergangenheit, die uns vielleicht gegenwärtiger anspringt als Vieles, das zeitgenössisch daherkommt.