Wie erleben wir den rasanten technologischen und gesellschaftlichen Wandel seit Beginn des letzten Jahrhunderts? Wie meistern wir Herausforderungen, Unvorhersehbares und unser tägliches Dasein? Wer könnte uns besser darüber erzählen als die Alten, die ihr ganzes Leben im ursprünglichsten Stadtteil Berns verbrachten und noch heute hier wohnen?
«Altstadtlüt» ist ein ungewöhnlicher Dokumentarfilm über unsere menschliche Existenz und die Zeit. Siebzehn über 80jährige Bewohnerinnen und Bewohner der Altstadt sprechen zu uns: Über ihr Leben, ihre prägenden Erlebnisse, über Erkenntnisse und Entscheidungen, über die Entwicklung der Stadt.
Wer achtsam zuhört und dabei in ihre Gesichter blickt, wird unweigerlich mit sich selbst konfrontiert. Ihre Erzählungen können uns Hinweise auf Kommendes geben und sollen ermutigen, uns mit Fragen zu unserem Dasein auseinander zu setzen. Ihre Erinnerungen werden zu einer Brücke von der Vergangenheit in die Zukunft; uns als Zuschauern ist es überlassen, ob wir diese beschreiten wollen.
Wertvolle Begegnungen in der Unteren Altstadt
Der Filmemacher Alberto Veronese ging in jeder Hinsicht unüblich vor. Vor einem Jahr zog er aus beruflichen Gründen nach Bern und fand zufällig an der geschichtsträchtigen Brunngasse eine neue Bleibe. Aus dem anfänglichen Vorhaben, seine nahe Umgebung mittels eines Films besser kennen zu lernen, wurde bald ein handfestes Projekt.
«Altstadtlüt» ist ein Versuch, die Zeit als eine Landschaft zu betrachten, in der wir uns umsehen.
Indra Spuler
Mit der Unterstützung seines Nachbarn und neu gewonnenen Freundes Antonio Caporali, Nähmaschinenchirurg und Kunstsinniger, wurden die ersten beherzten Altstadtmenschen gefunden, die mitzuwirken bereit waren. Durch Gespräche mit weiteren Anwohnern und Ladeninhabern wurde (und wird immer noch) allmählich ein Netz von Helfern geknüpft, die ihrerseits weitere Protagonisten suchten. Dabei kam es öfters zu wundersamen Zufällen und Begegnungen.
Film ohne Firlefanz
Bewusst verzichtete Veronese auf dramaturgische Effekte und technischen Firlefanz. So entstand ein kühner Gegenpol zu derzeitigen Modeströmungen in der Kino- und Fernsehbranche. Ein Film kann mit einfachen Mitteln weit mehr sein als eine Ansammlung von verschiedensten Kameraeinstellungen, Tönen und rasanten Schnitten.
Veroneses Film lässt viel Raum für eigene Interpretationen der Bilder; es existierte weder ein Drehbuch noch ein vorgefertigter Fragenkatalog, und keine Stimme aus dem Off kommentiert, was wir ohnehin sehen können. Entstanden sind zutiefst menschliche und warmherzige Porträts, die berühren und ansprechen.
«Altstadtlüt» ist ein Versuch, die Zeit nicht als Fluss zu betrachten, an dessen Ufer wir sitzen oder in dessen Strom wir schwimmen, sondern als eine Landschaft, in der wir uns umsehen. Zugleich erfahren wir viel Spannendes aus dem früheren Alltag in der Stadt, das teilweise weder in Archiven noch im Internet auffindbar ist. Dabei ist eine reiche Auswahl an Stadtberner Dialekten zu hören.
Heute verwenden die Medien oft das negativ behaftete Wort «Überalterung». Doch wie bedeutsam ist die Anzahl unserer Lebensjahre tatsächlich? Manche haben das Glück, noch – oder erst – im hohen Alter weit reisen und den sogenannten Lebensabend geniessen zu können. Andere sind schon früh eingeschränkt. In einer Gesellschaft ist es daher verfehlt, von Alten und Jungen zu sprechen. Vielmehr gibt es Starke und Schwache jeden Alters, solche, die anpacken können und solche, die Hilfe benötigen.