Als wir Lorrainekinder waren – Ein Brief

von Su Emilio 3. Juni 2024

Vista Activa In der Lorraine sind alle links und tolerant, dachte unser Kolumnist Su. Und doch entschied er sich dazu, sich in der Lorraine nicht zu outen. Eine Neuigkeit über einen ehemaligen Klassenkameraden bestätigte ihn jüngst in diesem Entscheid.

Inhaltswarnung: Sexismus, Trans*feindlichkeit, sexualisierte Gewalt

Liebe ehemalige Klassenkollegen,

nein, vielleicht eher liebe ehemalige Klassenkameraden.
Oder: «Hallo ihr, wisst ihr noch, die 8 oder 10 Jahre, die wir gemeinsam verbracht haben?»
Wir waren Lorrainekinder. Irgendwie werden wir wohl immer Lorrainekinder bleiben. Wisst ihr noch die Landschulwoche in der dritten Klasse? Damals hatte ich wirklich das Gefühl, dass wir eine Gruppe waren. Keine enge, aber wir kannten uns, irgendwie zumindest.

Lieber L, weisst du noch, wie L dir in der Landschulwoche Zöpfchen geflochten hat? Wir dachten alle, ihr seid ein bisschen verliebt. Lieber A, weisst du noch, als wir Freunde waren? Das war in der sechsten Klasse. Wie wir draussen sassen, ich in meinem Regenbogenjäckli, du in deinen dreckigen Vans. In den letzten zwei Wochen habe ich oft viel von unserer alten Klasse geträumt. Ich habe an euch alle gedacht, an euch Lorrainejungs und daran, wie wir waren und warum wir so geworden sind, wie wir heute sind. Oder warum ihr so geworden seid, wie ihr seid.

Irgendwann wusste ich, dass ich trans* bin. Ich war etwa zwölf, und wir sahen uns jeden Tag. In der Lorraine, da sind ja alle links, glaubte ich immer. In der Lorraine, da sind ja alle tolerant, wurde mir immer gesagt. In der Lorraine, dachte ich, kann ich mich nicht outen. Den Fehler suchte ich nie bei euch. Eigentlich müsste ich mich hier sicher fühlen, eigentlich sind ja alle links hier, meinte ich. Lieber A, weisst du noch, als du mir in der siebten Klasse «du Nuttä» nachgerufen hast? Du weisst sicher nicht, dass ich daraufhin beschloss, nicht mehr in die Schule zu kommen und ich mich erst bloss nach mehreren Gesprächen überzeugen liess, zurückzukommen. Lieber K, weisst du noch, als du mir trans*feindliche Dinge gesagt hast, weil ich als «Mädchen» Eishockey-Schlittschuhe anziehen wollte? Das war in der siebten Klasse, und daraufhin entschied ich mich dazu, mich nicht in der Lorraine zu outen.

Liebe Jungs, eure Männlichkeit war noch nie sicher für mich. Eure Männlichkeit ist auch nicht sicher für meine Freund*innen. Letzte Woche hat mir ein Freund erzählt, dass L übergriffig geworden ist. Das einzige Bild, das mir in den Sinn kam, warst du, L, und deine Zöpfchen in der dritten Klasse.
Wie konnte das passieren? Diese Frage stellte ich mir immer und immer wieder und ich fand dabei weder eine Antwort noch meinen Schlaf.

Denn letzte Nacht habe ich wieder von euch geträumt. E und L haben sich verprügelt und ich dachte mir: «Schon wieder habe ich nichts mit der Situation zu tun und muss Fürsorge-Arbeit für euch machen.» Denn ich sass neben euch, tröstete euch und versuchte die Wunden, die ihr euch gegenseitig zugefügt habt, zu verarzten.

Im Klimastreik Bern, in dem ich aktiv bin, fühle ich mich manchmal wie in diesem Traum. In einer Arbeitsgruppe, in der ich aktiv bin, haben wir ein Konzept für interne Übergriffe erstellt, damit wir unsere Konflikte untereinander lösen können und den betroffenen Personen zugehört wird. Solche Prozesse haben indigene Bevölkerungsgruppen bereits lange vor dem Klimastreik Bern erarbeitet, weil sie nicht auf den Staat und Polizeiapparat zählen konnten. Und wir haben das Privileg, von ihren Konzepten zu lernen.
Mittels dieses Konzepts versuchen wir, die betroffenen Personen ins Zentrum zu rücken. Wir wollen uns als Gruppe verantwortlich fühlen für die Strukturen, die wir erschaffen und sie so verändern, dass sich möglichst alle wohlfühlen.

Wir sind nicht die einzige Bewegung, die solche Arbeit macht. Es gibt auch andere Gruppen, die ihr kennt, von denen ihr Teil wart und die euch zu einer Aufarbeitung aufgefordert haben.
Doch bei euch stehen Aufarbeitung und Parteilichkeit zur betroffenen Person nicht an erster Stelle. Weil ihr so gut befreundet seid, ist es doch nicht so schlimm, wenn L übergriffig war. Weil ihr so gut befreundet seid, taggt ihr lieber in der Nacht in der Lorraine, als über euer Verhalten zu sprechen.
Ich bin wütend auf euch. Wütend, weil ihr es besser könnt. Und vor allem wütend, weil ich genau weiss, dass ihr (theoretisch) in der Lage wärt, diese Diskussion zu führen und euer Verhalten zu ändern. Aber das bräuchte – nunja – halt politisches Engagement von euch.

Liebe ehemalige Klassenkameraden, wenn ich mich heute frage, warum ich mich erst nach sechs Jahren, nachdem ich wusste, dass ich trans* bin, geoutet habe, suche ich den Fehler auch bei euch. Lieber L, K, M, A, C und alle andern: Eure Taggereien machen euch nicht links. Und euer Linkssein ist kein Schutz vor Selbstreflexion.

In Wut und Liebe,
euer ehemaliger Klassenkamerad
Su