Als das Brückfeld zum Leben erwachte – Teil II

von Stefan von Bergen 5. September 2024

Quartiergeschichte Zwei grosse Wohnüberbauungen und sogar ein Sportstadion werden 1924 an der Neubrückstrasse fertig gebaut. Die Häufung der 100-Jahr-Jubiläen ist kein Zufall. Die Stadt Bern erlebt damals einen vorerst letzten Wachstumsschub. Wie unter der Lupe erkennt man das im Brückfeld. Es verwandelt sich vom Pflanzblätz zum Stadtquartier. Teil II.

Im ersten Teil über die Geschichte des Brückfelds haben wir die Entstehung des Wohnbaus von Walter von Gunten an der Neubrückstrasse sowie das Lädelisterben ab den 1970er-Jahren beleuchtet. Im Teil II geht es um die Gegenwart und die Überbauung im Engeried.

Heute gibt es unter den Schaufensterbogen nur noch wenige Verkaufsorte mit Publikumsverkehr, stattdessen sind Bürogemeinschaften eingezogen. Velohändler Stefan Czaja schätzt, dass sein Umsatz vor der Verkehrsberuhigung durch motorisierte Laufkundschaft um 15 % höher war. «Gewerbe ist heute an der Neubrückstrasse weniger willkommen», sagt er.Wer hier wohne, wolle seine Ruhe haben. Für die langjährige Anwohnerin Lis Weiss ist die Neubrückstrasse heute anonymer. «Zu Zeiten der kleinen Läden war das soziale Netz dichter, die lokale Identifikation grösser», sagt sie.

An der langen Tavolata hätte Walter von Gunten seine Freude gehabt.

Auf dem breiten Trottoir aber gibt es scheue Zeichen für eine Wiederbelebung. Mit dem «Apfelgold» hat sich ein neues, beliebtes Restaurant mit Aussensitzzone etabliert. Und seit drei Jahren gibt es Anfang September vor den Ladenbogen das Neubrückstrassenfest.

An der langen Tavolata mitten auf der Strasse im September 2023 hätte Walter von Gunten seine Freude gehabt. Der urbane Geist der Flanier- und Begegnungszone, den er vor 100 Jahren an die Neubrückstrasse brachte, lebte am Fest neu auf.

Die Überbauung des Engerieds

Das Engeried etwas weiter stadtauswärts ist auf einer Fotografie der Neubrückstrasse von 1913 noch gänzlich unüberbaut. Bloss ein kleines Bauernhaus steht am Abzweiger des Riedwegs. 1914 aber wird auf dem nahen Viererfeld und Neufeld die Landesausstellung aufgebaut. Auch das Engeried wird nun als Baugelände entdeckt.

Zur ersten Bauetappe gehören die drei 100-jährigen Wohnhäuser an der Neubrückstrasse 114 bis 122. Die zweistöckigen Doppelwohnhäuser mit total 18 Vierzimmer-Wohnungen hat das Architekturbüro Schneider & Hindermann entworfen. Der wenig bekannte Berner Gottfried Schneider und der bekanntere Basler Architekt Hans Hindermann (1877-1963) erbauen die Häuser im damals für Bern typischen, konservativen Heimatstil.

Die Wohnhäuser an der Neubrückstrasse 114 bis 122. (Foto: zvg)

In den Stadthäusern wohnt man unter bauernhausartigen Walmdächern. Schneider und Hindermann entwerfen an der Neubrückstrasse und am Engeriedweg eine ganze Gartenstadt-Anlage. Weil Schneider früh 1930 stirbt und Hindermann nach Basel zurückkehrt, bauen dann in den 1930er Jahren andere aufgrund der ursprünglichen Planung die Siedlung fertig.

Berner Handwerker- und Baufirmen haben die drei Doppelhäuser als Investitionsobjekte und Arbeitsbeschaffungsmassnahme für ihre Belegschaft gebaut. Es sind keine Grossbürgerhäuser, andere Bauten an der nahen Diesbach- oder Daxelhoferstrasse sind nobler. Franziska Gerber, Mitbesitzerin und Bewohnerin an der Neubrückstrasse 118, erklärt, dass die Zimmer nicht grösser sind als 22 Quadratmeter. «Es gibt keinen grossen Salon zum Repräsentieren. Das sind nicht noble Häuser für Bernburger, sondern bescheidenere Wohnungen für ein neues Berner Bürgertum», findet sie.

Die heutigen Eigentümerinnen und Eigentümer bestätigen, dass die Häuser mit einfachem, eher spärlichem Baumaterial errichtet worden seien, allerdings durchaus solid und von handwerklicher Qualität. Es spricht für die Raffinesse dieser Bauten, dass sie mehr scheinen, als sie sind. «Nobel wirken die Häuser vor allem durch die grosszügigen Gärten, die sie umgeben», sagt Franziska Gerber.

Auch Architekturkritiker Christoph Schläppi lobt den bis heute erhaltenen, «malerischen Gartenstadtcharakter» der Siedlung Engeried. Er weist auch darauf hin, dass die Siedlung einen Eindruck des Bauens in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg vermittle, «als die Bauten mit bescheidenem Schmuck auskommen mussten.»

Trügerisches Gefühl des Aufbruchs

Die etwas trügerische Noblesse der Doppelwohnhäuser widerspiegelt, wie täuschend das Berner Aufbruchsgefühl von 1924 war. In seiner letzten Ausgabe des Jahres 1924 schlägt die Berner Tageszeitung «Der Bund» optimistische Töne an: 1924 sei für das politische und wirtschaftliche Leben in der Schweiz ein «Übergangsjahr» gewesen. Es gehe aufwärts.

Wir Nachgeborenen wissen: 1924 war tatsächlich ein Übergangsjahr. Aber ein trügerisches. Es ist ein Übergang in die Katastrophe und nicht in eine bessere Welt. Nach der Scheinblüte von 1924 folgen ab 1929 die Weltwirtschaftskrise, der Aufstieg von Josef Stalin, Adolf Hitler und der Zweite Weltkrieg.

Plan mit den bis 1931 erstellten H„äusern in der Engeried (Foto: zvg)

1924 wohnt übrigens am Engeriedweg eine illustre Persönlichkeit, die die unsichere Krisenstimmung geradezu verkörpert. Der SP-Gemeinderat Robert Grimm ist 1918 ist der Kopf des Landesstreiks, mit dem SP und Gewerkschaften gegen Armut, Lebensmittelknappheit, Arbeitslosigkeit und hohe Lebenshaltungskosten in der Krisenzeit des Ersten Weltkriegs protestieren. Die Armee besetzt darauf die grösseren Städte. Auch 1924 sind die sozialen und politischen Spannungen noch gross. Weil es keine sozialstaatlichen Auffangmassnahmen wie die AHV oder die Arbeitslosenversicherung gibt, sind die Leute auch in der hinteren Länggasse oft nur einen Schritt von der Armut entfernt.

Wiederbelebung der Gartenstadt

100 Jahre später haben die Doppelwohnhäuser aus den Krisenjahren ein erstaunliches Comeback erlebt. Seit der Sperrung der Neubrückstrasse für den Autoverkehr 2009 ist die Gartenstadt im Engeried wiederbelebt worden.

Aus sauber gemähten Ziergärten sind biodiverse Naturoasen mit Aussensitzplätzen geworden. Und die Verkehrsberuhigung hat nicht zuletzt zu einer markanten Wertsteigerung der Häuser geführt.

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Länggassblatt, Ausgabe Juni 2024. Hier geht es zum ersten Teil über die Geschichte des Brückfelds.