Als das Brückfeld zum Leben erwachte – Teil I

von Stefan von Bergen 4. September 2024

Quartiergeschichte Zwei grosse Wohnüberbauungen und sogar ein Sportstadion werden 1924 an der Neubrückstrasse fertig gebaut. Die Häufung der 100-Jahr-Jubiläen ist kein Zufall. Die Stadt Bern erlebt damals einen vorerst letzten Wachstumsschub. Wie unter der Lupe erkennt man das im Brückfeld. Es verwandelt sich vom Pflanzblätz zum Stadtquartier. Teil I von II.

Die Länggasse ist ab 1880 ein riesiger Bauplatz. Verwaltungsbauten, Fabrikgebäude, Villen und Arbeitersiedlungen schiessen aus dem Boden – ein Stadtteil entsteht. Um das Brückfeld im Osten der Länggasse aber macht der fieberhafte Wachstumsschub der Stadt vorerst einen Bogen. Auf dem Bierhübeliplateau breiten sich Kartoffeläcker und Familiengärten aus. Bloss ein paar Häuser säumen die Neubrückstrasse, die als idyllische Allee aufs Land hinausführt.

Im Jahr 1924 aber wird gegenüber vom Gasthof Bierhübeli auf der grünen Wiese ein mächtiger Wohnblock fertig gebaut. Auf drei Seiten umschliesst die Wohnanlage an der Neubrückstrasse, der Enge- und der Bonstettenstrasse einen Innenhof. Sie ist eine Stadt im Kleinen. Und der Grundstein für ein urbanes Quartier.

Das Brückfeld hebt sich ab

Ebenfalls im Jahr 1924 werden weiter stadtauswärts an der Neubrückstrasse 114 bis 122 drei Doppelwohnhäuser vollendet. Die Häufung der 100-Jahr-Jubiläen ist kein Zufall. Sie sind Ausdruck eines Urbanisierungsschubs. Exemplarisch kann man im Brückfeld verfolgen, wie sich die Stadt einen vorerst letzten Wachstumsring zulegt. Beidseits der Neubrückstrasse und im Engeried verdichten sich die Häuser 1924 zu einem gehobenen, bürgerlichen Wohnquartier. Baulich und in seinem Standesbewusstsein hebt es sich von der proletarischen, hinteren Länggasse ab.

Als das Brückfeldtram 1908 seinen Betrieb aufnimmt, rauschen gegenüber vom Bierhübeli noch die Baumkronen eines Parks im Wind. Er umgibt das Diesbachgut, einen Patrizierlandsitz, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts von der gleichnamigen Patrizierfamilie erbaut wurde. 1919 kauft der Verband der Schweizer Eisenbahn- und Schifffahrtsangestellten das Gut samt Park. Der Verband will auf dem Areal Wohnhäuser bauen.

Vom Landsitz zur Wohnburg

Anfang 1923 formiert sich das Baukonsortium Neubrück-Engestrasse. Es unterteilte den Park in nicht weniger als 16 Parzellen. Für 3,5 Millionen Franken entsteht ein zusammenhängender Wohnblock mit 16 Hausnummern und mehr als 70 Vierzimmer-Wohnungen. Den Grossauftrag vergibt das Konsortium an den 32 Jahre jungen Burgdorfer Architekten Walter von Gunten (1891-1972). Der Wohnbau ist von Guntens erstes grosses Projekt – und gleich ein Paukenschlag. Allein die Hauptfront an der Neubrückstrasse 70 bis 84 ist über 100 Meter lang. Kein Neubau fürs Wohnen ist damals in Bern grösser.

Im Parterre der langen Schaufront an der Neubrückstrasse bringt von Gunten hinter Schaufenstern Ladenareale unter. Mit dem Ornament hoher Bogen ahmt er die Laubenbogen der Altstadt nach. Über diesen erheben sich vier Wohnstockwerke. Geschäfte und Wohnen verbinden sich zu einer urbanen Mischung.

So präsentiert sich von Guntens Schaufront heute. (Foto: zvg)

Der Berner Architekturkritiker Christoph Schläppi nennt die Anlage in seinem Aufsatz über Walter von Guntens Schaffen eine «gewaltige Hofrandüberbauung». Schläppi analysiert die starke Wirkung der Hauptfront. Architekt von Gunten habe diese etwas zurückversetzt und so den Alleecharakter der Strasse gewahrt.

Gleichzeitig habe er sie aber mit der Arkadenreihe der Läden in einen «geschäftigen urbanen Gassenraum, in ein Gefäss für städtisches Leben» verwandelt. Walter von Gunten wird später in Bern weitere markante Bauten errichten: die kürzlich abgerissene Festhalle auf der Allmend und in der Länggasse das Staatsarchiv oder die Schulanlage Hochfeld.

Von der Ladenstrasse zum Ladensterben

Von Guntens Frühwerk von 1924 macht die Neubrückstrasse zur Einkaufs- und Flaniermeile. Langjährige Bewohnerinnen der Wohnanlage – Lis Weiss (Jahrgang 1942) und Hansruedi Schneider (1940) – erinnern sich an eine breite Palette von Läden an der unteren Neubrückstrasse. Da gab es eine Apotheke, eine Drogerie, eine Post, einen Blumenladen, mehrere Metzgereien, Lebensmittelläden, eine Molkerei, eine Bäckerei, Sanitär- und Elektrogeschäfte, Coiffeursalons und ein Tea-Room.

Walter von Guntens Bau wird zu einer Bühne des Lädelisterbens.

Aus dem Gründungsjahr 1924 hat in den Schaufensterbogen kein Laden überlebt. Zwei Geschäfte bieten dort immerhin schon seit 88 Jahren dieselben Dienste an. Der Veloladen «Die Speiche» von Stefan Czaja an der Neubrückstrasse 72 geht zurück auf den langjährigen Veloladen Grepper, der laut Adressbuch der Stadt Bern 1936 an die Neubrückstrasse zog. Im gleichen Jahr öffnet an der Nr. 82 Fritz Ellenberger seine «Feinschuh-Sohlerei», wo heute Schuhmacherin Andrea Schärmeli ihre «Schuhwerkstatt» betreibt.

1970 wird im Länggassquartier das Zähringer-Migros eröffnet. Der nahe Grossverteiler ist für die kleinen Läden eine übermächtige Konkurrenz. Walter von Guntens Bau wird zu einer Bühne des Lädelisterbens. Parallel dazu schwillt der Autoverkehr auf der Strasse vor den Läden ab den 1960er-Jahren an. Lärm und Abgase beeinträchtigten den Geschäftsstandort.

Mit der Eröffnung der Autobahn über den Tiefenauviadukt 1975 wird die Neubrückstrasse gar zum Autobahnzubringer. Täglich passieren bis zu 20’000 Autos. Durch den Bau des Neufeldtunnels und die Sperrung der Strasse mit Pollern in der Nacht wird der Autoverkehr dann ab 2009 umgeleitet.

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Länggassblatt, Ausgabe Juni 2024. Morgen erscheint hier der zweite Teil über die Geschichte des Brückfelds.