Draussen braust der Feierabendverkehr in Richtung Autobahn. Es ist später Nachmittag und noch nicht dunkel. Doch ein paar Treppenstufen unter der Laupenstrasse liegt eine andere Welt. Hier ist immer Nacht. Die Einrichtung spielt mit der Illusion. Spiegel lassen den Raum grösser erscheinen. Eine Disco-Kugel reflektiert buntes Scheinwerferlicht wie tausende Glassplitter. «Fade to grey» ist zu hören, trotzdem ist es still im Club. «Le Perroquet» hat erst vor einer Stunde geöffnet und ist noch leer.
Sechs bis acht Shows pro Nacht
An der Bar schenkt Bartenderin Anna einem frühen Kunden Bier aus. Ihren Nachnamen will sie lieber nicht sagen. Nachnamen sind im Nachtclub-Geschäft auch nicht relevant, die Mädchen – die eigentlich Frauen sind – werden beim Vornamen genannt. So wie Sofya. Die blonde 34-Jährige arbeitet seit einigen Jahren im «Le Perroquet». «Ich tanze sechs bis acht Shows pro Nacht», sagt sie. Ihre Schicht beginnt entweder am Nachmittag um vier oder abends um acht Uhr. «Nach Hause komme ich meist früh am Morgen. Dann schlafe ich bis nachmittags.» Die wenige Freizeit, die ihr bleibt, nutzt sie zum Spazierengehen oder zum Shopping.
«Ich habe zwei Zuhause»
Während acht Monaten arbeitet Sofya in der Schweiz. Die übrigen vier Monate verbringt sie in ihrer Heimatstadt Sumy im Nordosten der Ukraine. Dort leben ihr 15-jähriger Sohn und ihre Mutter. Sie skypen jeden zweiten Tag. Sie vermisse ihren Sohn. «Aber ich kann mit meiner Arbeit als Tänzerin im Nachtclub meine ganze Familie ernähren», sagt Sofya. Stolz klingt darin mit. Stolz darauf, dass sie allein für den Unterhalt sorgt, aber auch stolz, dass sie in der Schweiz leben kann. «Ich habe zwei Zuhause.» In Sumy arbeitet sie jeweils nicht. «Wer will mich schon für so eine kurze Zeit einstellen.» Und im Vergleich zum Schweizer Verdienst lohnt sich eine Erwerbsarbeit kaum.
«Alles ganz sauber, nichts Illegales»
Mit 24 Jahren kam Sofya zum ersten Mal in die Schweiz. Eine Freundin hatte ihr erzählt, dass sie mit Tanzen im Nachtclub gut verdiene. «Das wollte ich auch versuchen», sagt Sofya, die sich zuvor in ihrer Heimatstadt Sumy als Kellnerin mehr schlecht als recht durchschlug. «In meiner Heimat kann man nicht genug zum Leben verdienen, es reichte einfach nicht.» Über die Freundin gelangte Sofya an eine Agentur, die sie an Schweizer Nachtclubs weitervermittelte. «Alles ganz sauber, nichts Illegales», betont Sofya. Sie ist krankenversichert und bei der Fremdenpolizei gemeldet. Über den Vertrag mit dem Nachtclub ist neben dem Lohn auch die Unterkunft in einem Apartment geregelt. Aktuell wohnt Sofya zusammen mit anderen Tänzerinnen im Liebefeld.
«In meiner Heimat kann man nicht genug zum Leben verdienen, es reichte einfach nicht.»
Sofya Brytousova, Cabaret-Tänzerin
Macht es ihr Mühe, sich beim Tanzen vor den Gästen zu entkleiden? Sofya versteht die Frage nicht, obwohl ihr Deutsch gut ist. Anna, die ebenfalls aus der Ukraine kommt, hilft beim Übersetzen. «Ja, das erste Mal war etwas unangenehm», sagt Sofya dann, lacht und erinnert sich: «Da hat mir der Wodka geholfen.» Inzwischen habe sie den Tanz an der Stange gelernt. Es macht ihr nichts mehr aus. «Ich brauche mich erst am Ende und nur ganz kurz ausziehen», sagt sie und deutet hinüber zur Bühne mit den Stangen.
Ein älterer Herr in Schale kommt mit einer dunkelhäutigen, grazilen Schönheit im Arm an die Bar. «Das Mädchen hier hat Durst – was können wir da machen?» Bartenderin Anna empfiehlt ihm geschäftstüchtig Champagner. Der Gast zieht mit Begleiterin und einer Flasche Dom Perignon für 600 Franken in ein Separée.
Was läuft dort ab? «Keine Ahnung», sagt Sofya und lacht, «ich habe dort keine Kamera installiert.» Es ist deutlich: Darüber mag sie nicht reden. Ihre Arbeit beschränkt sich aufs Tanzen.
Mit den Gästen habe sie keine schlechten Erfahrungen gemacht. «Nur gute, so wie mit Thierry», sagt Sofya und zeigt auf ihren Sitznachbarn, einen der wenigen Gäste. Thierry will seinen vollen Namen nicht verraten. Er ist 42 und Stammgast im «Le Perroquet». Der IT-Ingenieur besucht seit 14 Jahren fast täglich Nachtclubs. «Hier kann ich in Ruhe mein Bier trinken und abschalten.» Er schätze die Atmosphäre und die Gesellschaft der Frauen. «Inzwischen kennen wir uns gut und sind Freunde geworden», sagt Thierry. Er hat viele Frauen in der Branche kennengelernt – auch seine Ehefrau. «Sie kam wie die meisten hierher, um Geld für ihre Familien zu verdienen.» Vor zwei Jahren haben sie aus Liebe geheiratet. Inzwischen konnte sie ihren siebenjährigen Sohn aus der Ukraine in die Schweiz nachholen und hat dank der Heirat eine B-Bewilligung. «Sie arbeitet trotzdem noch als Tänzerin, damit habe ich ein Problem», sagt Thierry.
«Ich wäre sehr traurig, wenn es Frauen wie Sofya nicht mehr gäbe.»
Thierry, Cabaret-Besucher
Schwierige Jobsuche trotz Diplomen
Seine Frau habe wie viele andere eine gute Ausbildung absolviert, sie habe Diplome als Sängerin und als Dirigentin, doch ihre Urkunden würden hierzulande nicht anerkannt. Sie müsste nun eine schlechter bezahlte Arbeit annehmen, und das wolle sie nicht. Dann lieber in Nachtclubs arbeiten. Bei allem Verständnis gebe es nun jedoch oft Streit, sagt Thierry. «Aus Trotz und zum Trost gehe ich deswegen in Clubs.» Hier werde ihm zugehört, er könne sein privates Dilemma vergessen und fühle sich gut aufgehoben. «Das alles ist in Gefahr, wenn der Bund die L-Bewilligungen aufhebt», sagt er. Es könne manchem schräg erscheinen, aber er habe in der Nachtclubszene eine Heimat gefunden. «Ich wäre sehr traurig, wenn es Frauen wie Sofya nicht mehr gäbe.»
Auch Sofya will ihren Aufenthaltsstatus behalten. Es geht um ihre Existenz. Dauerhaft in der Schweiz zu leben, könne sie sich momentan nicht vorstellen. «Das ginge nur mit einer Heirat und das will ich nicht. Ich habe noch keinen Mann kennengelernt, mit dem ich verheiratet sein möchte.»