Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) ist eine Ikone der Schweizer Kultur in den 1930er und beginnenden 1940er Jahren. Nach ihrem frühen Tod mitten im Zweiten Weltkrieg wurde sie vergessen. Erst vierzig Jahre darauf entdeckten Roger Perret und Charles Linsmayer die Schriftstellerin wieder; Linsmayer verfasste eine erste Biografie der Autorin. 1987 bildete die Zeitschrift «Der Alltag» Annemarie Schwarzenbach auf dem Titel ab. Seitdem gehört das Bild der schmalen, aparten, androgynen Frau zum festen Bestand grosser Figuren der Schweiz.
Wer erwartet, über die «Figur» Annemarie Schwarzenbach etwas zu erfahren, ihre familiäre Verwurzelung im Clan der Willes und der Schwarzenbachs (Textilindustrielle), ihr offenes Lesbischsein, ihre enge freundschaftliche Verbindung mit Erika und Klaus Mann, ihre Verachtung und Bekämpfung des Faschismus und Antisemitismus auch in der eigenen Familie, ihre Drogenabhängigkeit, ihre Brillanz, ihre Kühnheit und ihre Ambivalenz in Vielem – wer das erwartet, wird enttäuscht.
Die Fotografin
Das ZPK zeigt Fotografien der Reisenden und Reporterin A.S. Die Frau hinter der Rolleiflex-Kamera, deren Charakter, deren Leben, deren Interessen den Blick des Objektivs bestimmten, bleibt ausgespart. «Ich weiss (…) immer, warum ich einen Artikel schreibe, warum gerade diesen, nicht jenen», war Schwarzenbach überzeugt. Und vom amerikanischen Foto-Magazin «Life» hatte sie gelernt, dass Fotografien berichten müssten, ohne dass es Text brauche. Ihre Fotos waren für sie Dokumente: «Ein Bild ist erst gut, wenn sein Gehalt dem Betrachter sozusagen ‚in die Augen springt‘». Also: Es ist keineswegs egal, wer wo warum und wie fotografiert. Das ZPK blendet dies indes weitgehend aus. Für die Besucherinnen und Besucher wäre jedoch genau diese Einbettung ins gesamte Schaffen Schwarzenbachs hilfreich. Der fehlende Hintergrund macht die Fotografien nicht verständlicher, sondern beliebiger.
«Obwohl Annemarie Schwarzenbach in einzelnen fotografischen und journalistischen Arbeiten nicht immer ganz überzeugt, einiges auch unausgereift wirkt: in ihrem ganzen Schaffen ist sie für die Geschichte der Schweizer Fotografie und vor allen für die Geschichte der Schweizer Journalistinnen unzweifelhaft von Bedeutung». Das schrieb 1990 Regina Dieterle im informativen Nachwort zum Band «Annemarie Schwarzenbach – Auf der Schattenseite, Ausgewählte Reportagen, Feuilletons und Fotografien 1933-1942», den sie mit Roger Perret herausgab, und in dem viele der heute im ZPK zu sehenden Aufnahmen vereint sind, in schlechterer technischer Qualität. Dieterle schloss: «Ihre (Schwarzenbachs) Bedeutung muss wohl erst noch entdeckt werden».
Grosse Übersicht
Es ist das Verdienst von Kurator Martin Waldmeier und des ZPK, dies 30 Jahre später in einer grossen Übersicht anzupacken. Die Fotos stammen aus dem Nachlass Annemarie Schwarzenbachs. Er befindet sich im schweizerischen Literaturarchiv (SLA), Teil der Nationalbibliothek in Bern. Dort erschliessen einlässliche biographische Angaben Schwarzenbachs Leben. Die rund 7000 digitalisierten Fotos mit detaillierter Beschriftung sind online einsehbar.
Aus den Fotos hat Waldmeier eine Auswahl getroffen. Er präsentiert die Bilder in sechs Sektionen: Liebe zu Europa, Kleine Begegnungen, Die «neue Erde», Jenseits von New York, Zwischen den Kontinenten, Das glückliche Tal. Acht Fotografien werden in ihrer Entstehung und Bedeutung näher erläutert.
Die 1930er Jahre waren weltweit eine Zeit des Umbruchs. Für Atatürks «neue Türkei» wurde nicht nur das schweizerische Zivilgesetzbuch eingeführt, sondern in Anatolien Ankara neu gebaut, die Hauptstadt ohne alte Geschichte. In den USA begann Roosevelt die Grosse Depression mit dem New Deal zu überwinden. Auch der Orient, Schwarzenbachs mythischer Sehnsuchtsort, wandelte sich. Und in Europa tobten der Faschismus und der Antisemitismus, zuerst in Mussolinis «neuem Italien», ab 1933 in Hitlers Drittem Reich, das die Gesellschaft von oben mit Gewalt neu formierte, aufrüstete und den Führungsanspruch in Europa mit dem Zweiten Weltkrieg stellte.
Befähigung
Annemarie Schwarzenbach war als Foto-Reporterin in der halben Welt. Sie war befähigt und gerüstet: sprachgewandt, von Kind an schreibend, wissenschaftlich gebildete Historikerin (mit einer Dissertation über die Geschichte des Oberengadins, die noch heute genutzt wird), Fahrerin mit eigenem Auto (mit dem berühmten Kontrollschild GR 2111), das sie zu reparieren vermochte, geübt im Umgang mit Rolleiflex und Leica, ausgestattet durch Heirat mit einem Diplomatenpass und hervorragend vernetzt in viele Richtungen durch Familie und Freunde. Vor allem aber war sie unerschrocken und zäh; und – das sagte sie von sich – «neugierig, wissensdurstig, ungeduldig, unterwegs».
Unterwegs, stets von Neuem. «Immer sehen wir in unserer Erinnerung sie auf der Schwelle unserer Redaktionsräume erscheinen als eine Wiederkehrende von grosser Reise oder als Abschiednehmende vor einem Weitweggehen (…). Wir unterschätzen ihr Fernweh. Sie liess sich nicht halten. Kaum abgesessen, flog sie wieder auf wie ein ruheloser Vogel, so, als berge die Ferne den grossen Fund ihres Lebens.»
Arnold Kübler, der dies im Nachruf auf Annemarie Schwarzenbach schrieb («Du», März 1943), war in der «Zürcher Illustrierten» ihr Chefredaktor gewesen, bevor er die Kulturzeitschrift «Du» gründete. In der «Zürcher Illustrierten» sind die meisten Foto-Reportagen Schwarzenbachs erschienen. Sie publizierte in der Schweiz auch in der Basler National-Zeitung, in der NZZ, in der Wochenschrift ABC, in der Weltwoche, international vor allem in Klaus Manns Exilliteraturzeitschrift «Die Sammlung». Meist publizierte Schwarzenbach unter Pseudonym, nicht nur weil das für eine Antifaschistin in der Nazizeit weniger gefährlich war, sondern – wie Regina Dieterle vermutet – weil die Tätigkeit der Reporterin «all dem entgegengesetzt (war), was die Familie für recht hielt.»
Ein riesiges Oeuvre
In zehn Jahren kam ein reichhaltiges, vielfältiges Oeuvre aus Artikeln, Essays und Fotografien zusammen, die «Welt» brachten in die damals durch die geistige Landesverteidigung weitgehend nationalistisch auf sich bezogene Schweiz. Eine eindrückliche Arbeitsleistung, die Disziplin, Fleiss, Mut, Phantasie und Empathie verlangte, um die Realität – wie Schwarzenbach sie sah – einfangen und vermitteln zu können. Zahlreiche Aufnahmen von Menschen in allen Lebenslagen gelangen der Fotografin, weil sie die Abgebildeten zu gewinnen verstand.
Es ist mir nicht möglich, die Themen schon nur aufzuzählen, die Annemarie Schwarzenbach auf den zahlreichen Reisen in den Orient bis nach Indien, in ganz Europa bis weit in den Norden und Osten oder nach Portugal unternahm. Ein kurzer Blick soll nur auf die USA geworfen werden, die Schwarzenbach mehrmals bereiste bis tief in den Süden, in die weiten Landwirtschaftsfelder und ins Zentrum der Stahlindustrie. Sie lernte die sozialdokumentarische Fotografie kennen, mit welcher Roosevelts New Deal in seinen positiven, aber auch in den die Landschaft zerstörenden Folgen begleitet wurde. Einige Aufnahmen erscheinen wie Illustrationen von John Steinbecks «Früchte des Zorns» (1940), des Romans über die Flucht von Farmern aus unfruchtbar gewordenem Ackerland gegen Westen. Schwarzenbachs Fragen: Wann wendet sich der Fortschritt gegen die Menschen? Wann wird der American Dream ein Alptraum? Die Artikel analysieren schonungslos die Lage, ihre Fotografien zeigen die betroffenen Menschen, ihre Gesichter und Gefühle, ihre Geschichte.
In einem Manuskript schrieb Annemarie Schwarzenbach: «Vielleicht werden wir glücklicher, wenn das Schwache dem Starken erlegen, und das Weiche uns gleichgültig ist, und wir das ewig schlagende, das unruhige Herz zurückgelassen haben, dort am Wege»
Und nun?
Annemarie Schwarzenbachs Bedeutung als Journalistin und Fotografin müsse wohl erst noch entdeckt werden, vermutete Regina Dieterle vor dreissig Jahren. Was zeigt Martin Waldmeiers Entdeckung? Aus meiner Sicht stehen nicht die Fotografien im Zentrum von Schwarzenbachs Schaffen. Annemarie Schwarzenbach ist für mich mehr Sprach- als Bildmensch. Ihre Bilder verleihen den Artikeln konkrete Anschauung. Doch die Analysen leisten die Texte, eindrucksvoll.
Nachsatz
Foto-Ausstellungen dieser Art sind rar im ZPK und auch im Kunstmuseum Bern. Soweit es sie in letzter Zeit gab, galten sie Bernern (Paul Senn etwa oder Balthasar Burkhard). Der Ort in Bern für Fotografie ist das Kornhausforum. Dieses zeigte 2016 zum Beispiel Bilder einer Orientreise 1898, aufgenommen von der Berner Fotopionierin Augusta Flückiger. Mangels Klimaanlage und wegen kleiner Budgets ist das Kornhausforum allerdings nicht in der Lage, eine Ausstellung wie jene im ZPK zu stemmen, obwohl das foto-historische und das foto-künstlerische Wissen und Können bestehen – und eine engagiert gebildete Tradition dies gebieten würde. In die lobenswerte Zusammenarbeit von schweizerischem Literaturarchiv und ZPK hätte das Kornhausforum jedenfalls gut gepasst.