«Almosen geben ist harte Arbeit»

von Jessica Allemann 23. September 2012

Der Film «Modest Reception» fragt, was passieren kann, wenn zwei Welten aufeinanderprallen, und die Regeln des einfachen Tauschgeschäfts nicht mehr gelten.

Was würde geschehen, wenn ein Mann und eine Frau auf dem Bundesplatz stünden und Plastiksäcke voller Geld an die Passantinnen und Passanten verteilten? «Nichts», sagt Filmregisseur und Schauspieler Mani Haghighi, «oder jedenfalls nicht das, was im Film passiert, weil es nicht die gleichen Voraussetzungen sind, wie in der Geschichte des Films.» Mit «Was im Film passiert» meint er, dass eine scheinbar einfache Geste unter bestimmten Voraussetzungen derart entgleisen kann, dass am Ende nichts als Hoffnungslosigkeit und tiefe Verzweiflung übrig bleibt – auf beiden Seiten.

Keiner will Almosen

Haghighis Film «Modest Reception» handelt von einem eigenartigen Paar, Kaveh (Mani Haghighi) und Leyla (Taraneh Alidoosti), das mit einem Kofferraum voller Geld in eine vom Krieg gebeutelte entlegene Bergregion im Iran fährt, um das Geld an jene zu verteilen, welche nichts mehr haben. Schnell finden sie heraus, dass ihr Unterfangen viel komplizierter ist als angenommen: «Almosen geben sieht einfach aus, aber es ist harte Arbeit», lässt Haghighi Leyla im Film sagen.

«Kavehs und Leylas Geste ist eine Form psychologischer Gewalt.»

Mani Haghighi

Anstelle rührseliger Freude über die Gaben schlägt den beiden nämlich grösster Argwohn entgegen. Keiner, haust er auch nur unter einer Plastikplane und besitzt allein die Kleider, welche er am Leibe trägt, will die Gabe annehmen, ohne irgendeine Gegenleistung zu erbringen. Die Beschenkten reagieren vielmehr unwirsch und fassungslos. Dies liege an der unterschwelligen Aggression, welche jede Spendentätigkeit in sich berge, so Haghighi. «Kavehs und Leylas Geste ist eine Form psychologischer Gewalt.» Tatsächlich sehen sich die Beschenkten auf einmal als Objekt einer offenkundig irrationalen Handlung und mit einer offenen Schuld konfrontiert.

Absurdes Spiel von Geben und Nehmen

«Wenn du etwas gibst, ohne eine definierte Gegenleistung zu erhalten, wirst du versuchen, diesen fehlenden Gegenwert mit irgendetwas zu ersetzen.» Zuerst reiche vielleicht ein einfaches «Danke». Aber weil es bei einem solch ungleichen Tauschgeschäft keine Regeln gebe, an denen man seine Erwartungen an eine Gegenleistung ausrichten könne, könne man letztendlich irgendetwas verlangen. In diesem von Regeln befreiten Raum beginnt für Kaveh und Leyla ein absurdes Spiel von Geben und Nehmen. Der Einsatz aller Beteiligten ist höher, als sie es selber ahnen. Wo noch ein karges Bündel Holz für 5 Millionen Rial gehandelt wird, verlangen die Wohltäter schon bald vom Empfänger, auf den Gnadenschuss für sein verletztes und leidendes Maultier zu verzichten, oder verweigern einem Vater dafür, dass er mit dem Geld seine verbliebene Familie ernähren kann, das Bestatten des Leichnams seines verstorbenen Neugeborenen. «Kaveh und Leyla fragen sich, wie weit sie dieses Spiel treiben können», sagt Haghighi.

Bis weit über das Erträgliche hinaus

Die Suche nach der Antwort treibt sie in ihrem Handeln bis weit über das Erträgliche hinaus. Nichts scheint ihnen mehr heilig. Das viele Geld, das es zu verschenken gilt, bringt die Schenkenden schliesslich dazu, sich selber zu verkaufen – mit jedem Plastiksack voller Geld geben sie ein Stück ihrer Menschlichkeit und damit ihrer Selbstachtung weg. «Wenn du dich in einem Konzept ohne Grenzen konsequent in eine Richtung bewegst, sei es die grenzenlose Liebe oder der grenzenlose Hass, der grenzenlose Glaube in irgendein System, irgendetwas, dann wird es unweigerlich grausam und befremdlich», sagt Haghighi. Leyla und Kaveh hätten gehofft, auf eine Person zu stossen, die sich ihrem Spiel widersetze und hätten feststellen müssen, dass jeder mitspiele, wenn man ihn nur genug dränge. Am Ende – alle Hoffnung in die Unverkäuflichkeit der Moral und der letzte Geldschein sind verloren – bleiben eine schale Ernüchterung und eine ungewisse Verlassenheit zurück. Auch beim Publikum.


Kurzinterview mit Taraneh Alidoosti und Mani Haghighi

 

Journal B: Taraneh Alidoosti, was ist Ihnen während der Arbeiten an «Modest Reception» durch den Kopf gegangen?

Taraneh Alidoosti:

Ich habe immer wieder daran gedacht, dass die Menschen der wohlhabenden Bevölkerungsschicht ebenso an den Ungerechtigkeiten einer Gesellschaft leiden wie die Armen. Ich sehe mich immer wieder mit Menschen konfrontiert, die zwar finanziell gut dran sind aber mit dem Gefühl leben müssen, nie wirklich anerkannt oder geschätzt zu werden, weil sie ein Grossteil der Bevölkerung als ‹blöde Privilegierte› verurteilt. Einem nicht sauber funktionierendem System, sei es wegen ungerechter Verteilung des Vermögens oder des politischen Mitspracherechts, entspringt eine Wut, die im Film bei Leyla deutlich zum Vorschein tritt. Leyla empört sich, weil die Ablehnung des Geldsegens durch die Ärmsten des Landes einer Abwertung ihrer Geste gleichkommt. Auf einmal scheint die für Leyla auf falscher Bescheidenheit beruhende Verweigerung des Geldes einer moralischen Überlegenheit zu entspringen, die  ihre wohltätige Geste abwertet. Das macht sie wütend. Sie fühlt sich unverstanden. Dabei wäre sie möglicherweise zufrieden, würde der alte und gebrechliche Obdachlose nur anerkennen, dass hinter ihrer Spende wahrhaftig gute Absichten stecken. Auch wenn der das Geld nicht annimmt. Aber die beiden finden nicht zueinander, der Zugang zwischen beiden Seiten ist verschlossen.

Der scheiternde Versuch des urbanen und gut situierten Reisepaars, in Kontakt mit den bedürftigen Menschen in der Bergregion zu treten, zeigt die Barrieren zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen auf. Diese Barrieren scheinen ein zentrales Thema des Films zu sein?

Mani Haghighi:

Die Standesunterschiede sind offensichtlich, aber es geht noch weiter. Die Barrieren zwischen den Filmcharakteren sind auch moralischer Natur. So fühlen sich die Bedürftigen im Film aufgrund ihrer Armut den Reichen moralisch überlegen, als weise und tugendhaft, so als ob ihnen ihre Armut eine besondere moralische Stärke verleihen würde. Und diese Einstellung bringt Kaveh und Leyla zum Verzweifeln. Weil sie nicht glauben können, dass SIE es sind, die herablassend behandelt werden, und dass sich ein notleidender alter Mann ihnen gegenüber aufführen kann, als wisse er alles übers Universum und die Welt, und dass er aufgrund seiner Schwäche und Bescheidenheit ein besserer Mensch sei.

Ist der Film im Iran schon in die Kinos gekommen? Welche Reaktionen gab es?

H:

Der Film kommt im Oktober in die iranischen Kinos. Er wurde aber am Fajr Filmfestival in Teheran von den Kritikern als 2. Bester Film beurteilt. Es gab ein starkes positives Feedback von den Kritikern, besonders was die Ästhetik und das Technische angeht. Von einigen Kritikern wurde der Film überhaupt nicht geduldet. Sie mochten vor allem die Ideen hinter dem Film, die Ideologie hinter der Geschichte nicht. Genauso erging es dem Publikum. Der Film wird extrem kontrovers aufgenommen. Es gibt kaum Menschen, denen der Film gleichgültig ist. Mir gefällt das.

Was müsste man als Zuschauerin oder Zuschauer für ein Hintergrundwissen mitbringen, um den Film besser verstehen zu können?

«In einer ungerechten Gesellschaft leiden auch die Reichen.»

Taraneh Alidoosti

H:

Ich mache die Filme zwar im Iran und hauptsächlich für ein iranisches Publikum. Aber ich versuche nichts zu machen, was für Nichtiraner völlig unverständlich ist. Es ist mir während der Arbeiten immer bewusst, dass es auch ein internationaler Film sein soll und Menschen in Indien, Griechenland und in der Schweiz ihn anschauen werden. Natürlich gibt es kleine subtile Witze, die man nur mit einem gewissen Hintergrundwissen verstehen kann, aber sie sind für die Geschichte unbedeutend, nur Dekoration.

A:

Ein Beispiel dafür, dass «Modest Reception» ein Film ist, der für das iranische Publikum genau so funktionieren soll wie für Nichtiraner ist Leylas Mütze. Wenn ich iranische Filme drehe, halte ich mich an die iranischen Regeln und ziehe immer ein Kopftuch an. Dass Leyla eine Mütze trägt, ist ein Trick, den wir benutzten, weil wir nicht wollten, dass durch eine bestimmte Kleidung oder zum Beispiel auch durch einen bestimmten Dialekt, Regionen oder Länder von der Filmhandlung ausgeschlossen werden.

Fühlen Sie sich durch die angesprochenen iranischen Regeln in Ihrem Arbeiten als Schauspielerin eingeschränkt?

A:

Die Grenzen, die ich fühle, sind generelle Grenzen und keine spezifischen Regeln für oder gegen mich als Schauspielerin. Aber wenn etwas moralisch verurteilt wird, ist es auch schlecht, das in den Filmen zu machen. Es gibt Zensoren, aber wir sind mit den Regeln aufgewachsen, sie gehören für uns dazu und wir sehen das nicht als grosse Einschränkung. Und wir haben gelernt, uns innerhalb der Regeln frei zu bewegen.