«Alles ist immer scheisse und schön zugleich»

von Janine Schneider 16. März 2024

Literatur Die Autorin Caroline Wahl kommt nach Bern. Ihr Roman «22 Bahnen» steht im Zentrum des diesjährigen Festivals «Bern liest ein Buch». Ein Gespräch über familiären Zusammenhalt, den Blick für das Schöne und die Mythen rund ums Schreiben.

Journal B: Schwimmst du gerne?

Caroline Wahl: Ich bin gerne im Wasser, aber bin keine ambitionierte Schwimmerin. Ich plansch lieber.

Du wohnst in Rostock. Gehst du im Winter in der Ostsee schwimmen?

Es gibt Leute, die das machen. Aber ich bin eine Warmduscherin. Wenn ich schwimmen gehe, dann im geheizten Hallenbad.

Für Tilda, die Protagonistin deines Romans, ist Schwimmen ein wichtiger Teil ihrer Alltagsroutine. Sie schwimmt jeden Tag 22 Bahnen im örtlichen Hallenbad. Deshalb heisst der Roman auch «22 Bahnen». Stand dieser Titel schon von Anfang an fest?

Nein, der Arbeitstitel war «Überfahrene Radieschen». Ida, die Schwester von Tilda, beginnt ja irgendwann den Abendbrottisch zu decken und dafür Radieschenröschen zu schnitzen. Tilda kommt nach Hause und bemerkt die Radieschenröschen, die ihrer Meinung nach vielmehr wie überfahrene Radieschen ausschauen. Deshalb war das der Arbeitstitel, aber meine Lektorin meinte, das klinge zu stark nach diesen Leberkäse-Büchern von Rita Falk (lacht).

In deinem Roman zeichnest du eine schwierige Familiensituation. Die Mutter, so viel darf man verraten, ist schwer alkoholkrank und kann sich nicht um ihre Töchter kümmern. Stattdessen schaut die zwanzig Jahre alte Tilda zu ihrer kleineren Schwester Ida, die in der fünften Klasse ist. Was hält diese Familie zusammen?

Ich glaube, dass da trotz allem ein Zusammenhalt zwischen den dreien ist. Also nicht nur zwischen Tilda und Ida, die sich gegenseitig beschützen und zusammenhalten. Sondern die Schwestern stehen eben auch zur Mutter. Die bedingungslose Liebe zwischen den Schwestern umfasst auch sie. Tilda versucht ihrer Schwester zuliebe eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten. Sie weiss, dass die Mutter nicht gesund werden wird. Aber da ist doch noch so ein Funken Hoffnung. Und man merkt ja auch zwischendurch, dass sie es gerne besser machen würde, aber der Alkohol einfach zu stark ist.

Trotz allem holt sich Tilda keine Hilfe von aussen. Weshalb eigentlich?

Weil sie die Mutter und die Schwester beschützen und es allein schaffen will. Sie ist auch misstrauisch der Aussenwelt gegenüber und hat Angst, dass ihr die Kleine weggenommen wird. Tilda ist so ein pragmatischer Mensch, der alles zusammenhalten möchte, da kommt eine Hilfe von aussen nicht in Frage. Der Einzige, der helfen darf, der auch ins Haus reindarf, ist ja dann Viktor.

Trotz der vielen schrecklichen Dinge, die passieren, und der ganzen Traurigkeit ist die Welt manchmal magisch schön.

Ich finde es eindrücklich, wie du es schaffst, trotz all der schweren Themen im Roman eine gewisse Fröhlichkeit und Leichtigkeit beizubehalten.

Es war eine schwierige Zeit, in der ich diese Geschichte geschrieben habe und Schreiben war eine Art Schutzraum. Ich habe sehr gern Zeit mit den beiden Schwestern verbracht, gerade weil sie es schaffen, trotz der Widrigkeiten, die ihnen in den Weg geschmissen werden, den Blick für die schönen Dinge nicht zu verlieren. Und dadurch habe auch ich den Blick für das Schöne wiedergefunden. Trotz der vielen schrecklichen Dinge, die passieren, und der ganzen Traurigkeit ist die Welt manchmal magisch schön. Man darf das nicht vergessen. Alles ist immer scheisse und schön zugleich.

Du hast die Geschichte im Präsens und der ersten Person geschrieben. Hast du diese Form von Anfang an gewählt oder hat sich das erst im Laufe des Schreibens herauskristallisiert?

Mit der Figur von Tilda war diese Form von Anfang an klar. Ich wollte etwas Unmittelbares, das einen direkt anspringt. Und diese dramatische Darstellung der wörtlichen Rede war auch klar. Da stehen ja kein «flüstern», kein «schweigen» oder Gänsefüsschen im Weg, da steht nur das Gesagte. Und ich finde, das passt zu Tilda und zur Erzählstimme. Dass es jetzt ist und jetzt raus muss. Das hat so eine Brutalität, Dringlichkeit und Distanzlosigkeit.

Welche Recherchen hast du für das Buch durchgeführt?

Recherchiert habe ich vor allem zu Alkoholismus. Da ich selbst nicht aus einer Familie mit einer alkoholkranken Person komme, hatte ich anfangs auch Angst, dass mir da Aneignung vorgeworfen würde. Deshalb habe ich sehr viel recherchiert. Mit Personen gesprochen, die in der Suchtstation arbeiten, mit Ärzten. Viel geschaut, gelesen und gehört.

Als ob es das naheliegendste wäre, Geschichten über sich selbst zu schreiben. Erzählen ist vor allem toll, um sich neue Welten zu erschließen.

Am Anfang des Buches steht die Widmung «Für meine Mama, die immer da ist». Hatte deine Mutter keine Angst, dass plötzlich alle denken, sie sei alkoholkrank?

(lacht) Der war das komplett egal. Was mich auch ein bisschen gewundert hat. Aber ich glaube, das liegt daran, dass es keine einzige Parallele zwischen ihr und Tildas Mutter gibt. Anfangs wollte ich das Buch meiner Mutter und Schwester widmen, weil beide von Anfang an die Geschichte mitgelesen haben. Und dann dachte ich: Wenn ich das beiden widme, dann denken alle, das sei meine Geschichte. Das ist ja auch die Frage, die einem immer gestellt wird: Ob der Roman autobiografisch sei. Mich nervt diese Frage. Als ob es das naheliegendste wäre, Geschichten über sich selbst zu schreiben. Ich finde, erzählen ist vor allem toll, um sich neue Welten zu erschließen.

Du hast zuvor in einem Verlag gearbeitet und Germanistik studiert. Wann hast du angefangen zu schreiben?

Ich habe schon als Kind geschrieben, das war mein Ausdrucksmittel. Aber nie mit dem Selbstbewusstsein, dass ich das mal beruflich machen möchte. Weil ich auch nie jemanden hatte, der mich bestärkt hat. Und dann, als ich im Verlag gearbeitet habe, hab‘ ich gemerkt, dass ich gerne die Seite wechseln und auch mal einen Roman schreiben möchte.

Und dann hast du dich hingesetzt und es hat gleich geklappt?

Das ist dann immer, wie es nach aussen hin wirkt. Nach meinem Masterabschluss in Deutscher Literatur und meinem Verlags-Volontariat hatte ich mir überlegt noch einen zweiten Master zu machen und zwar Literarisches Schreiben in Leipzig oder Hildesheim. Ich habe mich da auch beworben, von Leipzig habe ich eine Absage erhalten und von Hildesheim wurde ich eingeladen, aber habe stattdessen die Stelle beim Diogenesverlag in Zürich angenommen. Die Absage war natürlich entmutigend. Aber in Zürich dachte ich mir: Wenn dann jetzt. Mir geht es jetzt nicht gut. Und ich kann auch ohne Leipzig oder Hildesheim schreiben.

(Foto: Frederike Wetzels)

Wie unterscheidet sich die Perspektive aus der Verlagsarbeit von der, die du jetzt als Autorin miterlebt hast?

Natürlich ist es eine ganz andere Perspektive. Mir gefällt die Rolle als Autorin auf jeden Fall besser (schmunzelt). Alle kümmern sich um dich und schauen, dass es gut läuft. Du musst nur schreiben und zu den vereinbarten Terminen gehen. Aber mir hat es sehr geholfen, dass ich in einem Verlag gearbeitet habe. Dadurch wurde das Schriftsteller*innendasein entromantisiert und ich kannte die Abläufe hinter der Entstehung eines Buches.

Und jetzt lebst du vom Schreiben.

Das ist wirklich das Schönste von allem. Ich muss mich jetzt nicht mehr rechtfertigen, weshalb ich zuhause bleibe und schreibe.

Wie sieht dein Schreiballtag aus?

Ich bin sehr streng mit mir selbst. Morgens und nachmittags schreibe ich. Mittags mache ich immer eine Pause, gehe auch kurz raus, einkaufen, vielleicht schwimmen oder rennen. Danach hat man auch wieder Energie zum Weiterschreiben. Das Schöne ist: Ich kann wirklich an allen Orten schreiben. In Rostock, bei meinen Eltern, im Urlaub. Das schätze ich sehr. Schreiben ist eine Art Zuhause, das ich überallhin mitnehme.

Man darf sich da auch nicht so wichtig nehmen.

Dein nächster Roman «Windstärke 17» kommt nun im Mai raus. Oft wird vom schwierigen zweiten Buch gesprochen – gerade, wenn das erste so erfolgreich war. Wie hast du das erlebt?

Ach, gar nicht. Das ist so ein Mythos, den ich null fühle. Als das Lektorat von «22 Bahnen» fertig war, habe ich sofort weitergeschrieben. Weil ich unbedingt weiterhin Autorin bleiben und gucken wollte, ob es wieder funktioniert. Beim Schreiben denke ich dann auch nicht an die Leser, ich denke nur an die Geschichte. Das ist fast schon meditativ. Abends macht man sich schon manchmal Gedanken, wie das zweite Buch laufen wird. Aber man darf sich da auch nicht so wichtig nehmen. Es gibt so viele tolle Bücher, die einfach untergehen. Deswegen muss man immer dankbar sein, wenn es läuft. Und wenn es nicht läuft: weitermachen.

Hast du einen Ratschlag für junge Leute, die schreiben und ein Buch veröffentlichen wollen?

Einfach dranbleiben. (Überlegt kurz) Das Problem ist, dass ich selbst nie einen Ratschlag bekommen habe. Ich bin heute sehr stolz, dass ich trotz der Absage von Leipzig und ohne Unterstützung von aussen drangeblieben bin. Leseeindrücke sind so subjektiv. Wenn du den Text an ein paar Leute schickst und sie den nicht gut finden, sagt das so wenig über den Text aus. Leipizig und Hildesheim sind toll und es ist ein Weg, der für viele ein Sprungbrett sein kann. Aber es gibt auch viele andere Wege.