Alles eine Frage der Kohärenz?

von Yannic Schmezer 12. Juli 2019

Auf Spurensuche im Nordquartier: Weshalb die Tellstrasse so breit ist und die Strassen rundherum vaterländische Namen tragen.

Schulhaus und Kindergarten Wankdorf werden von Morgarten- und Sempachstrasse eingerahmt. Die vielbefahrene Winkelriedstrasse stösst wie eine Lanze durch den Rücken des Nordquartiers. Wer bei der Markuskirche rechts abbiegt, kann der Tellstrasse bis zum beschaulichen Tellplatz folgen, auf dessen Höhe die Waldstätterstrasse einmündet. Seit zwei Jahren führt mich der Weg regelmässig ins hintere Nordquartier und seither stelle ich mir zwei Fragen: Weshalb ist die Tellstrasse so saumässig breit und weshalb tragen alle Strassen rundherum vaterländische Namen?

Von der Hauptverkehrsachse zur Quartierstrasse

Die erste Frage lässt sich leicht beantworten: Die Tellstrasse wurde 1932, damals noch unter dem Namen «Ringstrasse A», als Teil einer die Stadt weitgehend umfahrenden Ring-Hauptverkehrsachse projektiert. Später wurde sie zur Quartierstrasse. Seit 2004 gilt Tempo 30 und die Strassenfläche ist durch zwei Velo- und Rasenstreifen verschmälert. 2009 veranlasste der Gemeinderat dann die provisorische Sperrung der Tellstrasse für den Durchgangsverkehr. Weil die Massnahme aber auf viel Anklang stiess und sich offenbar auch nicht negativ auf die allgemeine Verkehrssituation im Quartier auswirkte, wurde sie verlängert und 2014 trotz einiger weniger Einsprachen und nach dem Urteil des bernischen Verwaltungsgerichts definitiv verfügt. Was bleibt ist die «anachronistische Breite» (so die IG Wankdorf), die von der Vergangenheit der Tellstrasse als Hauptverkehrsachse zeugt.

Strassennamen und geistige Landesverteidigung

Die zweite Frage ist etwas komplizierter: Als erste Strasse mit einem Namen im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte der Schweiz wurde 1914 die Stauffacherstrasse gebaut. Sie erinnert an den sagenumwobenen Mitgründer der Eidgenossenschaft, Werner Stauffacher. 1932 wurde dann die Tellstrasse in Anlehnung an die Stauffacherstrasse ebenfalls nach einem Schweizerischen Nationalhelden benannte – Willhelm Tell. Das gleiche gilt für die Melchtalstrasse (1935 nach Arnold von Melchtal) und die Attinghausenstrasse (1935 nach Werner II von Attinghausen).‏‎ Mitte der 50er Jahre feierte Bern dann seine 600-jährige Zugehörigkeit zur Eidgenossenschaft. Im Rahmen der Feierlichkeiten erhielten gleich mehrere Strassen vaterländische Namen. 1951 erst die Winkelriedstrasse (nach Arnold Winkelried), dann 1953 die Sempachstrasse (nach der Schlacht von Sempach) sowie die Morgartenstrasse (nach der Schlacht am Morgarten) und schliesslich als letztes 1954 die Waldstätterstrasse (nach den vier Urkantonen Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden).

Mit Blick auf die Jahrzahlen stellt sich die Fragen nach den zugrundeliegenden Motiven der Benennungen. Als zu Beginn der 30er Jahre in Europa die totalitären Ideologien um sich griffen, wurde in der Schweiz die bis in die 60er Jahre andauernde Periode der geistigen Landesverteidigung eingeläutet. Ziel war es, als «schweizerisch» wahrgenommene Werte und Bräuche zu kultivieren und so eine klassen- und parteiübergreifende Volksgemeinschaft zu schmieden, die immun gegen den Nationalsozialismus bzw. später gegen den Kommunismus ist.

Es ist zumindest vorstellbar, dass die Pflege der Entstehungsgeschichte und des Gründungsmythos der Eidgenossenschaft durch die Benennung von Strassen diesem Zweck gedient haben könnte. Indizien dafür suchte ich im Stadtarchiv. Einerseits könnte die Berichterstattung zu dieser Zeit Hinweise auf die protektiven Absichten liefern, andererseits erhoffte ich mir in verwaltungsinternen Dokumenten offene Bekenntnisse zu finden. Diese Möglichkeit erschien mir zwar unwahrscheinlich, jedoch nicht unmöglich. Schliesslich wurde die geistige Landesverteidigung ab 1938 ganz offiziell vom Bundesrat mitgetragen.

Doch nur eine Frage der Kohärenz?

Die interessantesten Dokumente, die ich in die Finger bekam, waren Korrespondenzen zwischen der städtischen Baudirektion und dem bernischen Gemeinderat. Die Baudirektion schlug dem Gemeinderat jeweils Strassennamen vor und begründete ihre Vorschläge knapp. Die Begründungen waren jedoch unspektakulär. Stets wurde auf die bereits existierenden vaterländischen Namen Bezug genommen. So schrieb die Baudirektion am 25. August 1953 in einem Brief an den Gemeinderat etwa: «Die beiden ersten Strassenzüge (Sempach- und Morgartenstrasse) liegen in einem Gebiet, das bewusst mehrheitlich Namen aus der Entstehungsgeschichte der Schweiz aufweist, so die Stauffacher-Str., Attinghausen-Str., Melchtal-Str., Tell-Str., Winkelried-Str.» Leider lässt sich die Benennungsgeschichte nicht bis zur ältesten Strasse, der Stauffacherstrasse, zurückverfolgen, da die einschlägigen Dokumente, gem. Auskunft einer sehr freundlichen Archivarin, noch nicht vollständig erschlossen seien.

Einer ernsthaften Spekulation fehlt also (vorerst) die Grundlage. Womöglich ging es dem Gemeinderat bei der Benennung in erster Linie wirklich nur um Kohärenz. Das lässt auch das Alter der erstbenannten Stauffacherstrasse (1914) vermuten. Damals war die geistige Landesverteidigung – zumindest offiziell – noch kein Thema.