«Ein Schwingfest – das sind die Wurzeln unseres Landes», sagte Bundesrat Ueli Maurer an der Eröffnungsrede des Eidgenössischen Schwingfestes 2013 in Zug. Deshalb sei es auch die Zukunft von Schwingfesten «die Werte unseres Landes zu pflegen und unseren Wurzeln Sorge zu tragen.» Ob für Maurer auch ein Schwingfest in der stadtberner Reitschule zu dieser «Wertepflege» zählen würde? Am kommenden Wochenende lädt diese zu einem «Reitgenössischen Schwingfest» in ihrem Innenhof ein.
Ein Fest, das üblicherweise mit Ländlichkeit, Tradition und reichlich Patriotismus verbunden wird, findet nun also ausgerechnet im linksautonomen Kulturzentrum statt, am wohl urbansten Ort der Stadt. Die Widersprüchlichkeit scheint offensichtlich. Am Samstag wird geschwungen und getanzt in der Reitschule, am Sonntag gibt es dort ein «Bürinnäzmorgä». Derweil mutmasst die Öffentlichkeit über die Beweggründe der Organisator*innen: Provokation, Kulturkampf oder einfach nur Unterhaltung?
Bisher übten sich die Veranstalter*innen in Zurückhaltung. Medienanfragen liessen sie unbeantwortet. So konnte auch der Präsident des kantonalbernischen Schwingerverbandes (BKSV), Jakob Aeschbacher, nur spekulieren: «Entweder haben die Reitschüler wirklich Interesse am Schwingen bekommen, oder aber sie machen sich über uns und den traditionellen Schwingsport lustig», äusserte er sich gegenüber «20 Minuten». Nun durfte Journal B einer Sitzung der Organisator*innen beisitzen und mit ihnen ausführlich über das Fest und dessen Hintergründe reden.
Alles hat seinen Platz
Dabei wurde eines klar: Das Reitgenössische Schwingfest soll «keine Persiflage» sein, wie Lina*, eine der Organisatorinnen festhält. «Es geht in keinster Weise darum, etwas ins Lächerliche zu ziehen.» Am Sitzungstisch im Innenhof der Reitschule sitzen zehn junge Menschen. Vor ihnen stehen Gläser mit Wasser oder Apfelsaft, auf Zettel oder kleine Notizhefte werden eifrig letzte To-Do’s notiert. Die Idee für ein Schwingfest in der Reitschule stehe bereits seit drei Jahren im Raum, erzählt Tim*, ein weiterer Organisator. «Ich glaube, die Faszination für den Schwingsport hat in den letzten Jahren in der Stadt, aber auch in der linken Szene zugenommen.» Tim selbst hat früher in der Schule mal geschwungen. Heute fasziniert ihn vor allem die Inszenierung von Schwingfesten, deren «installativen» Charakter: «Das Sägemehl, der grüne Rasen, der Brunnen – alles hat eine Bedeutung und seinen Platz.» Ein Schwingfest sei für ihn etwas «wahnsinnig Ästhetisches».
Lina sagt von sich, dass sie zuvor eigentlich keinen Bezug zum Schwingen gehabt habe. Während der Recherche für die Schwingfestorganisation habe sie aber vor Kurzem ein Schwingfest in Zäziwil besucht. «Ich habe mich vollkommen fehl am Platz gefühlt», meint Lina. An einem Schwingfest in der Reitschule packt sie gerade diese Widersprüchlichkeit zwischen dem verbreiteten Bild des Schwingens und der Reitschule: «Natürlich entsteht eine gewisse Ironie, wenn ein so traditionsbeladenes Fest im Setting der Reitschule stattfindet.» Genau das sei aber spannend. Es sei zwar nicht das primäre Ziel des Anlasses, aber dass in dieser Weise über den Schwingsport diskutiert wird und gewisse «verhärtete Strukturen» hinterfragt würden, sei dennoch wünschenswert.
So sah sich etwa der kantonale Schwingerverband dazu gezwungen, gegenüber «20 Minuten» festzuhalten, dass die Punkte des alternativen Schwingfests in der offiziellen Rangliste nicht berücksichtigt würden. Für Tim klar eine Ehre – man scheint die Reitschüler*innen ernst zu nehmen. «Die offiziellen Punkte des Schwingerverbands zählen bei uns auch nicht», bemerkt Lina dazu schmunzelnd. In ernsterer Miene erklärt sie aber auch, dass man sich ganz bewusst vom Schwingerverband distanziere. Der Schwingsport wird in der Reitschule respektiert, aber er soll in einem losgelösten, alternativen Rahmen ausgeübt werden können. Denn auch der Verband habe teils rückständige Strukturen, kritisiert Lina: «Insbesondere bezüglich dem Frauen-Schwingen klaffen dort noch grosse Defizite.»
«Respect und Awareness»
An der Sitzung des Organisationskomitees wird deutlich: Das Schwingfest in der Reitschule ist ein Balanceakt zwischen Anlehnung und Abgrenzung. Zum einen wollen die Organisator*innen möglichst vieles von einem traditionellen Schwingfest übernehmen. Die Gruppe ist sich beispielsweise einig: Ein Brunnen muss her. «Da geht man sich nach dem Kampf das Gesicht waschen!» Auch der Wurststand ist beschlossene Sache, natürlich auch mit veganen Würsten.
Zum anderen gibt es eine ganz klare Abgrenzung in der ideologischen Ausrichtung: Kein Männlichkeitspathos, kein Ausschluss, kein nationalistisches Gedankengut; dafür «Respect und Awareness», so das Motto. Dabei sollen sowohl erfahrene Schwinger*innen als auch Anfänger*innen die Möglichkeit haben, sich im Sägemehl zu messen. Eine Anmeldung stehe grundsätzlich allen offen. «Nulltoleranz gibt es nur gegenüber nationalistischem Gedankengut oder Lokalpatriotismus», präzisiert Tim. Wenn eine*r mit einer Bernflagge einfahren möchte, solle die betreffende Person besser gleich fernbleiben.
Es gehe dabei nicht darum, rechtskonservativen Kreisen das Schwingen wegzunehmen, so Tim. «Wir wollen lediglich zeigen, dass es auch anders geht. Schwingen ist als erstes einmal einfach ein Sport. Er kann auch anders konnotiert werden als mit rechtem und nationalistischem Gedankengut.»
Für einen guten Zweck
Das Schwingen «nur» als Sportart anzusehen, greife dennoch zu kurz, findet Lina. Das Schwingen werde nun mal oft symbolbildlich für die sogenannte «Urschweiz» als «patriotisch-nationalistisches Konstrukt» verwendet. Genau dieses Konstrukt soll am Reitschul-Schwingen in Frage gestellt werden. Eine Arbeitsgruppe hat sich dafür kritisch mit Begriffen wie «Tradition», «Volk», «Heimat» und «Nation» auseinandergesetzt und dazu Texte geschrieben. Diese sollen am Fest aufgelegt werden und zum Nachdenken anregen. «Tradition etwa ist nicht per se etwas Schlechtes», sagt Lina, die auch in der Inhaltsgruppe tätig war. «Oft stehen Traditionen aber in Zusammenhang mit Exklusion – dann wird es problematisch.» Im Text zu «Tradition», der der Redaktion vorliegt, wird beispielsweise die Frage aufgeworfen, ob ausschliessende Traditionen grundlegend abgelehnt werden sollen, oder ob es möglich wäre, sie für sich zu erschliessen und auch für andere Gruppen zugänglich zu machen. Dass das «Reitgenössische» nun genau dies versucht, liegt auf der Hand.
Dass sich zunehmend junge Städter*innen fürs Schwingen interessieren, konstatiert auch der Sporthistoriker Michael Jucker im Blog des Schweizerischen Nationalmuseums. Historisch gesehen ist dies aber keine Neuheit. Gerade die Stadt Bern spielte für die Etablierung des Schwingsports eine zentrale Rolle.
Ein Fest für die Restauration
So wurde das erste Unspunnenfest, das 1805 in Spiez stattgefunden hat, tatsächlich von vier Bernburgern initiiert und organisiert. Ihr Ziel: Nach der französischen Besatzung durch Napoleons Truppen in Bern wollten sie die alte Ordnung wiederherstellen. Dazu brauchten sie jedoch die Landbevölkerung als Verbündete. Also planten die vier Aristokraten aus Bern in Interlaken ein Spektakel, das die Einigkeit von Stadt und Land mit gar internationaler Ausstrahlung zelebrieren sollte. Dazu fügten sie sämtliche Bräuche zusammen, die sie finden konnten: Schwingen, Steinstossen, Alphornblasen, Schiessen und Singen.
Das Unspunnen gilt noch heute als voller Erfolg und Startschuss für den Oberländischen Tourismus. Weniger erfolgreich waren die Bernburger in ihren Versöhnungsbestrebungen. Als 1814 die alte Ordnung wiederhergestellt war, rebellierten die Oberländer*innen gegen die aristokratische Stadtherrschaft, diese schickte postwendend ihre Truppen. Danach verlor auch das Schwingen für die Burger wieder an Bedeutung.
Auch für die Gründung des Eidgenössischen Schwingerverbandes und die Ausrufung des ersten Eidgenössischen Schwingfestes diente die Stadt Bern als Schauplatz. In einem Kaffeehaus in der Berner Innenstadt beschlossen der Zürcher FDP-Kantonsrat Erwin Zschokke und einige Kumpanen 1895 den ESV und gleichzeitig das erste «Eidgenössische». Auch hier spielten politische Motive eine Rolle. Der kriselnde radikale Freisinn bemühte sich um seinen Machterhalt und setzte vermehrt auf Betonung von bereits Erreichtem und Traditionen. Um 1900 beginnt der freisinnig dominierte Bundesrat das Schwingen konsequent finanziell zu unterstützen.
Arbeiterschwingen
Auch die linke Aneignung des Schwingens kennt bereits historische Anknüpfungspunkte. In den 1920er Jahren entstand in der Schweiz eine proletarisch-sozialistische Schwingbewegung. In Oerlikon bei Zürich wurde 1919 der Arbeiterschwingerverband gegründet. Die körperliche Ertüchtigung wurde hier zusammen mit der geistigen Förderung des Klassenbewusstseins verbunden – und als Vorbereitung um «vereint bessere Lebensbedingungen zu erlangen». Töne revolutionärer Absichten? Zumindest erklärte das Organisationskomitee des Arbeiterschwingfestes 1922 in Olten, zu dem der damalige SP-Nationalrat und Marxist Jacques Schmid gehörte, klare Absichten, warum sich die Arbeiter vom bürgerlichen Schwingen absonderten: «In unserem Kreise kann er [der Schwinger] die edle Kameradschaft pflegen ohne den bitteren Beigeschmack der Gewissheit empfinden zu müssen, dass die Kollegen, denen er zum friedlichen Wettkampf die Hand drückt, draussen im ernsten Leben des grauen Alltags wieder als seine Klassengegner gegen ihn stehen und auf die Vernichtung seiner menschenwürdigen Existenz als Arbeiter sinnen.»
Eine Revolutionärin aus dem Oberland
Der Arbeiterschwingerverband, der ab den 1930er Jahren vor dem Hintergrund der Geistigen Landesverteidigung an Bedeutung verlor, löste sich 1980 auf – genau zum Zeitpunkt, als eine andere Gruppe die Schwingbühne betrat: Unter grossem Widerstand der Männer und des Eidgenössischen Schwingerverbandes organisierte Dora Hari, eine Wirtin aus dem Berner Oberland, das erste Schwingfest für Frauen. Hari rechnete mit 500 Besuchenden, am Schluss waren es über 10’000. Trotz des vollen Erfolgs ist Schwingen bis heute vor allem eine Männerdomäne. Ein Blick auf das «Eidgenössische» im August in Pratteln zeigt den schweren Stand der Schwingerinnen erneut: Während die Schwinger des ESV von einem Vorverkaufsrecht für Tickets profitieren, erhielten die Mitglieder des Frauenschwingverbandes ein solches nicht. Noch heute sind Frauen bei Schwingfesten vor allem als zuschauende Freundinnen, Pausendarbieterinnen oder «Ehrendamen» willkommen. Die Männer schwingen, die «Ehrendamen» überreichen ihnen die Kränze – «und sind stolz darauf, dabei die Festregion, die Kultur und Traditionen repräsentieren zu können», so der Wortlaut des OKs auf der Homepage des Eidgenössischen.
Neue Zäsur?
Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Schwingen immer wieder von Gruppen instrumentalisiert, zu politischen Zwecken oder aber zur eigenen Ermächtigung vereinnahmt wurde. Zeichnet der kommende Samstag in der Reitschule den Beginn einer neuen Schwingbewegung? Wir dürfen gespannt sein.
Bezüglich politischer Ausrichtung und Gedankengut gibt es an der Sitzung im OK-Team keinen grossen Redebedarf. Für Diskussionen hingegen sorgt etwa der traditionelle Lebendpreis: Am Eidgenössischen gibt es bekannterweise einen Muni als Hauptpreis zu gewinnen. Die Ideen beim Organiationskomittee gehen auseinander: Soll ein «Güggu» aufgetrieben werden? Oder ein gefrorenes Suppenhuhn aus einem Berner Bio-Laden? Lina winkt ab. Mit Verweis aufs Tierwohl findet sie es undenkbar, ein Lebewesen als Preis darzubieten: «Das können wir nicht bringen!»
Gewinnen werden im Übrigen alle Schwingenden etwas. Die Preise werden von lokalen Betrieben gesponsert. Die Unterstützung für den Anlass scheint gross. Ob dies an einer allgemeinen Faszination fürs Schwingen liegt, sei dahingestellt. Vermutlich steht für Viele auch der solidarische Zweck der Veranstaltung im Vordergrund – alle Einnahmen werden an soziale Projekte gespendet: Das Geld geht zum einen an Medina, die niederschwellige Sozialarbeit auf der Schützenmatte, zum anderen an das Solidaritätsnetz Bern, eine Rechtsberatungsstelle für geflüchtete Menschen. Die gesamte Arbeit hinter dem «Reitgenössischen» wird ausserdem ehrenamtlich geleistet.
Schlussspurt in den Vorbereitungen
Gegen Ende der Sitzung werden letzte Aufgaben verteilt. Nur noch wenige Tage bis zum Reitgenössischen. Freund*innen und Bekannte müssen noch für den Schichtplan gewonnen werden und noch immer ist unklar, wo jetzt die dringend benötigten Schwinghosen genau herkommen.
Nach der sonst eher pragmatischen und speditiven Sitzung kommt nun eine beinahe aufgekratzte Vorfreude auf. Noch immer ist es jedoch kaum vorstellbar, hier im Innenhof zwischen Graffitis und Anarchiezeichen bald Sägemehl und Schwinghosen zu sehen. Vielleicht einen Lebendpreis? Ganz bestimmt einen Brunnen, der irgendwo gluckern wird. Es wird sich kommenden Samstag zeigen, ob und wie das läuft – ein Schwingfest im autonomen Jugendzentrum.
*Name geändert