Alle Macht dem Sägemehl

von Rahel Schaad & Maurin Baumann 8. Juli 2022

Kommendes Wochenende findet ein Schwingfest in der Reitschule statt. Pure Provokation? Wir haben mit den Organisator*innen um Tradition, Männlichkeitspathos und Lebendpreise gerungen. Die Vorschau auf das «Reitgenössische».

«Ein Schwingfest – das sind die Wurzeln unseres Landes», sagte Bundesrat Ueli Maurer an der Eröffnungsrede des Eidgenössischen Schwingfestes 2013 in Zug. Deshalb sei es auch die Zukunft von Schwingfesten «die Werte unseres Landes zu pflegen und unseren Wurzeln Sorge zu tragen.» Ob für Maurer auch ein Schwingfest in der stadtberner Reitschule zu dieser «Wertepflege» zählen würde? Am kommenden Wochenende lädt diese zu einem «Reitgenössischen Schwingfest» in ihrem Innenhof ein.

Ein Fest, das üblicherweise mit Ländlichkeit, Tradition und reichlich Patriotismus verbunden wird, findet nun also ausgerechnet im linksautonomen Kulturzentrum statt, am wohl urbansten Ort der Stadt. Die Widersprüchlichkeit scheint offensichtlich. Am Samstag wird geschwungen und getanzt in der Reitschule, am Sonntag gibt es dort ein «Bürinnäzmorgä». Derweil mutmasst die Öffentlichkeit über die Beweggründe der Organisator*innen: Provokation, Kulturkampf oder einfach nur Unterhaltung?

Bisher übten sich die Veranstalter*innen in Zurückhaltung. Medienanfragen liessen sie unbeantwortet. So konnte auch der Präsident des kantonalbernischen Schwingerverbandes (BKSV), Jakob Aeschbacher, nur spekulieren: «Entweder haben die Reitschüler wirklich Interesse am Schwingen bekommen, oder aber sie machen sich über uns und den traditionellen Schwingsport lustig», äusserte er sich gegenüber «20 Minuten». Nun durfte Journal B einer Sitzung der Organisator*innen beisitzen und mit ihnen ausführlich über das Fest und dessen Hintergründe reden.

Alles hat seinen Platz

Dabei wurde eines klar: Das Reitgenössische Schwingfest soll «keine Persiflage» sein, wie Lina*, eine der Organisatorinnen festhält. «Es geht in keinster Weise darum, etwas ins Lächerliche zu ziehen.» Am Sitzungstisch im Innenhof der Reitschule sitzen zehn junge Menschen. Vor ihnen stehen Gläser mit Wasser oder Apfelsaft, auf Zettel oder kleine Notizhefte werden eifrig letzte To-Do’s notiert. Die Idee für ein Schwingfest in der Reitschule stehe bereits seit drei Jahren im Raum, erzählt Tim*, ein weiterer Organisator. «Ich glaube, die Faszination für den Schwingsport hat in den letzten Jahren in der Stadt, aber auch in der linken Szene zugenommen.» Tim selbst hat früher in der Schule mal geschwungen. Heute fasziniert ihn vor allem die Inszenierung von Schwingfesten, deren «installativen» Charakter: «Das Sägemehl, der grüne Rasen, der Brunnen – alles hat eine Bedeutung und seinen Platz.» Ein Schwingfest sei für ihn etwas «wahnsinnig Ästhetisches».

reitschule
Vor dieser Kulisse wird am Samstag geschwungen. (Foto: Rahel Schaad)

Lina sagt von sich, dass sie zuvor eigentlich keinen Bezug zum Schwingen gehabt habe. Während der Recherche für die Schwingfestorganisation habe sie aber vor Kurzem ein Schwingfest in Zäziwil besucht. «Ich habe mich vollkommen fehl am Platz gefühlt», meint Lina. An einem Schwingfest in der Reitschule packt sie gerade diese Widersprüchlichkeit zwischen dem verbreiteten Bild des Schwingens und der Reitschule: «Natürlich entsteht eine gewisse Ironie, wenn ein so traditionsbeladenes Fest im Setting der Reitschule stattfindet.» Genau das sei aber spannend. Es sei zwar nicht das primäre Ziel des Anlasses, aber dass in dieser Weise über den Schwingsport diskutiert wird und gewisse «verhärtete Strukturen» hinterfragt würden, sei dennoch wünschenswert.

So sah sich etwa der kantonale Schwingerverband dazu gezwungen, gegenüber «20 Minuten» festzuhalten, dass die Punkte des alternativen Schwingfests in der offiziellen Rangliste nicht berücksichtigt würden. Für Tim klar eine Ehre – man scheint die Reitschüler*innen ernst zu nehmen. «Die offiziellen Punkte des Schwingerverbands zählen bei uns auch nicht», bemerkt Lina dazu schmunzelnd. In ernsterer Miene erklärt sie aber auch, dass man sich ganz bewusst vom Schwingerverband distanziere. Der Schwingsport wird in der Reitschule respektiert, aber er soll in einem losgelösten, alternativen Rahmen ausgeübt werden können. Denn auch der Verband habe teils rückständige Strukturen, kritisiert Lina: «Insbesondere bezüglich dem Frauen-Schwingen klaffen dort noch grosse Defizite.»

«Respect und Awareness»

An der Sitzung des Organisationskomitees wird deutlich: Das Schwingfest in der Reitschule ist ein Balanceakt zwischen Anlehnung und Abgrenzung. Zum einen wollen die Organisator*innen möglichst vieles von einem traditionellen Schwingfest übernehmen. Die Gruppe ist sich beispielsweise einig: Ein Brunnen muss her. «Da geht man sich nach dem Kampf das Gesicht waschen!» Auch der Wurststand ist beschlossene Sache, natürlich auch mit veganen Würsten.

Die ersten Materiallieferungen fürs Fest stehen in der Reitschule bereit. (Foto: Rahel Schaad)

Zum anderen gibt es eine ganz klare Abgrenzung in der ideologischen Ausrichtung: Kein Männlichkeitspathos, kein Ausschluss, kein nationalistisches Gedankengut; dafür «Respect und Awareness», so das Motto. Dabei sollen sowohl erfahrene Schwinger*innen als auch Anfänger*innen die Möglichkeit haben, sich im Sägemehl zu messen. Eine Anmeldung stehe grundsätzlich allen offen. «Nulltoleranz gibt es nur gegenüber nationalistischem Gedankengut oder Lokalpatriotismus», präzisiert Tim. Wenn eine*r mit einer Bernflagge einfahren möchte, solle die betreffende Person besser gleich fernbleiben.

Es gehe dabei nicht darum, rechtskonservativen Kreisen das Schwingen wegzunehmen, so Tim. «Wir wollen lediglich zeigen, dass es auch anders geht. Schwingen ist als erstes einmal einfach ein Sport. Er kann auch anders konnotiert werden als mit rechtem und nationalistischem Gedankengut.»

Für einen guten Zweck

Das Schwingen «nur» als Sportart anzusehen, greife dennoch zu kurz, findet Lina. Das Schwingen werde nun mal oft symbolbildlich für die sogenannte «Urschweiz» als «patriotisch-nationalistisches Konstrukt» verwendet. Genau dieses Konstrukt soll am Reitschul-Schwingen in Frage gestellt werden. Eine Arbeitsgruppe hat sich dafür kritisch mit Begriffen wie «Tradition», «Volk», «Heimat» und «Nation» auseinandergesetzt und dazu Texte geschrieben. Diese sollen am Fest aufgelegt werden und zum Nachdenken anregen. «Tradition etwa ist nicht per se etwas Schlechtes», sagt Lina, die auch in der Inhaltsgruppe tätig war. «Oft stehen Traditionen aber in Zusammenhang mit Exklusion – dann wird es problematisch.» Im Text zu «Tradition», der der Redaktion vorliegt, wird beispielsweise die Frage aufgeworfen, ob ausschliessende Traditionen grundlegend abgelehnt werden sollen, oder ob es möglich wäre, sie für sich zu erschliessen und auch für andere Gruppen zugänglich zu machen. Dass das «Reitgenössische» nun genau dies versucht, liegt auf der Hand.

Bezüglich politischer Ausrichtung und Gedankengut gibt es an der Sitzung im OK-Team keinen grossen Redebedarf. Für Diskussionen hingegen sorgt etwa der traditionelle Lebendpreis: Am Eidgenössischen gibt es bekannterweise einen Muni als Hauptpreis zu gewinnen. Die Ideen beim Organiationskomittee gehen auseinander: Soll ein «Güggu» aufgetrieben werden? Oder ein gefrorenes Suppenhuhn aus einem Berner Bio-Laden? Lina winkt ab. Mit Verweis aufs Tierwohl findet sie es undenkbar, ein Lebewesen als Preis darzubieten: «Das können wir nicht bringen!»

​​​​​​Gewinnen werden im Übrigen alle Schwingenden etwas. Die Preise werden von lokalen Betrieben gesponsert. Die Unterstützung für den Anlass scheint gross. Ob dies an einer allgemeinen Faszination fürs Schwingen liegt, sei dahingestellt. Vermutlich steht für Viele auch der solidarische Zweck der Veranstaltung im Vordergrund – alle Einnahmen werden an soziale Projekte gespendet: Das Geld geht zum einen an Medina, die niederschwellige Sozialarbeit auf der Schützenmatte, zum anderen an das Solidaritätsnetz Bern, eine Rechtsberatungsstelle für geflüchtete Menschen. Die gesamte Arbeit hinter dem «Reitgenössischen» wird ausserdem ehrenamtlich geleistet.

Schlussspurt in den Vorbereitungen

Gegen Ende der Sitzung werden letzte Aufgaben verteilt. Nur noch wenige Tage bis zum Reitgenössischen. Freund*innen und Bekannte müssen noch für den Schichtplan gewonnen werden und noch immer ist unklar, wo jetzt die dringend benötigten Schwinghosen genau herkommen.

Nach der sonst eher pragmatischen und speditiven Sitzung kommt nun eine beinahe aufgekratzte Vorfreude auf. Noch immer ist es jedoch kaum vorstellbar, hier im Innenhof zwischen Graffitis und Anarchiezeichen bald Sägemehl und Schwinghosen zu sehen. Vielleicht einen Lebendpreis? Ganz bestimmt einen Brunnen, der irgendwo gluckern wird. Es wird sich kommenden Samstag zeigen, ob und wie das läuft – ein Schwingfest im autonomen Jugendzentrum.

*Name geändert

reitschule
In der Mitte des Innenhofs wird der Sägemehlkreis stehen. (Foto: Rahel Schaad)