«Alle haben mit ihren eigenen Dschinns zu kämpfen»

von Janine Schneider 28. März 2023

Die Autorin Fatma Aydemir kommt nach Bern. Ihr Roman «Dschinns» steht im Zentrum des diesjährigen Festivals «Bern liest ein Buch». Ein Gespräch mit der Berlinerin über familiären Zusammenhalt, fiktive Städte und das Patriarchat.

Das Treffen findet per Zoom statt. Fatma Aydemir weilt noch in Berlin. Erst auf das Festival «Bern liest ein Buch» wird sie in die Bundesstadt kommen. Wir sprechen über ihr Buch «Dschinns», das im Zentrum des Festivals stehen wird. Darin geht es um eine kurdisch-türkische Familie in den Neunzigerjahren. Der Vater, Hüseyin, hat dreissig Jahre in Deutschland gearbeitet und steht nun vor der Erfüllung seines lebenslangen Traums, einer Eigentumswohnung in Istanbul. Aber es kommt anders: Am Tag seines Einzugs stirbt er an einem Herzinfarkt. Und seine Familie reist aus Deutschland an, nicht um ihn zu besuchen, sondern um ihn zu beerdigen.

Fatma Aydemir, was sind Dschinns?

Dschinns sind für mich erst mal eine Kindheitserinnerung. Ich erinnere mich an die Geschichten, den Aberglauben und die Angst, die ich vor Dschinns hatte, ohne so richtig greifen zu können, was das ist. Dschinns sind geisterähnliche Wesen mit je nach Erzählung anderen Eigenschaften. Einen Dschinn kann man sich einfangen und dann von ihm besessen sein. Es gibt viele abergläubische Regeln, die davor schützen sollen. Und ich erinnere mich, dass es gerade in traditionellen oder dörflichen Kontexten oft hiess, dass jemand von einem Dschinn besessen sei, wenn es darum ging, eine Abweichung von der Norm zu benennen, die man nicht anders beschreiben konnte. Dann hiess es zum Beispiel nicht «die Person ist lesbisch», sondern «die Person ist von einem Dschinn besessen».

Dein Buch «Dschinns» handelt von einer kurdisch-türkischen Familie, die in den Sechzigerjahren nach Deutschland ausgewandert ist. Hüseyin, der Vater, hat in einem Ort namens Rheinstadt Arbeit gefunden. Bald darauf holt er seine Frau und Kinder nach. Nur die älteste Tochter bleibt vorerst bei den Grosseltern im türkischen Karlıdağ und wird erst später nachgeholt. Rheinstadt wie auch Karlıdağ existieren in Wirklichkeit nicht. Weshalb hast du fiktive Orte für deinen Roman gewählt?

Fiktiv sind nur die kleineren Orte: Rheinstadt, Karlıdağ und auch Salzhagen. Bei den grossen Städten, die im Buch vorkommen, wie Berlin, Istanbul oder Frankfurt, fiel es mir leichter, reale Orte zu verwenden, weil dazu schon so viele Bilder existieren. Alle haben eine Vorstellung davon. Bei kleineren Orten wird es schnell zu spezifisch. Es geht mir nicht darum, zu sagen, guck mal, in Karlsruhe ist dieses und jenes passiert. Sondern den Prototyp einer westdeutschen Industriestadt zu erschaffen, in die viele sogenannte Gastarbeiter*innen im Zuge des Anwerberabkommens gekommen sind. Ich erhalte immer wieder Nachrichten von Leser*innen mit unterschiedlichsten Vorschlägen, für welche Orte diese Städte stehen könnten. Genau diese Offenheit wollte ich beibehalten.

So können sich auch viele mit diesen Orten identifizieren… 

Genau. Wenn ich einen Namen erfinde, beginnt das Rätseln und das Abgleichen. Die Leser*innen müssen sich fragen: Was hat das mit mir zu tun? Könnte das vielleicht sogar der Ort sein, an dem ich wohne?

Sich selbst behaupten und selbst bestimmen zu können, wer ich bin und wofür ich stehe, das ist der eigentliche Kampf, den die Figuren ausfechten.

Die Familie von Hüseyin und Emine fühlt sich nicht immer willkommen in Deutschland. Du thematisierst in deinem Buch Vorurteile, Diskriminierungen und auch bedrohliche Situationen. Gleichzeitig scheinen die Protagonist*innen zwischen zwei verschiedenen kulturellen Lebenswelten zu stehen, und weder der einen noch der anderen genügen zu können.

Ich glaube, das Problem liegt nicht darin «zwischen zwei Kulturen» zu stehen. Das Problem liegt vielmehr darin, was auf einen projiziert wird. Das zeigt sich im Buch schon darin, dass es eine kurdische Familie ist, die nach Deutschland kommt und in Deutschland als türkisch gilt. Da wurde kein Unterschied gemacht. Die Gastarbeiter*innen waren eine sehr diverse Gruppe, die aus ökonomischen, aber auch politischen Gründen aus der Türkei nach Deutschland kamen. Zudem waren bei weitem nicht alle muslimisch. Die Assimilationspolitik des türkischen Staates, die alle als türkisch und muslimisch bezeichnete, schrieb sich in Deutschland fort. Die Konflikte mit Projektionen setzen sich im Buch in den verschiedenen Rollen fort, die den Figuren übergestülpt werden. Als Ausländer, als Sohn oder Tochter. Und es ist immer nervig und verletzend, als komplexer Mensch auf eine einzige Sache reduziert zu werden.

Wie du sagst, spielen solche Zuschreibungen auch in den Konflikten zwischen den verschiedenen Familienmitgliedern eine grosse Rolle. So wird zum Beispiel nach dem Tod von Hüseyin von Hakan als dem ältesten Sohn erwartet, die Rolle des Familienoberhaupts zu übernehmen. Darauf hat er aber überhaupt keine Lust.

Die sechs Figuren haben ganz unterschiedliche Konflikte und kämpfen mit unterschiedlichen Zuschreibungen. Der Blick der Leser*innenschaft fokussiert sich anfangs oft auf den migrantischen Hintergrund der Familie. Sie denken zuerst, es sei ein Buch, um zu verstehen, wie eine typisch kurdisch-migrantische Familie funktioniert. Und dann wird vielen Leuten im Verlauf des Lesens klar, dass diese Konflikte und Zuschreibungen auch weisse Leute in Deutschland erleben. Natürlich in anderen Abstufungen und anderen Kontexten, aber wir alle kämpfen permanent damit, was auf uns projiziert wird. Sich selbst behaupten und selbst bestimmen zu können, wer ich bin und wofür ich stehe, das ist der eigentliche Kampf, den die Figuren in meinem Buch ausfechten. Alle haben mit ihren eigenen Dschinns zu kämpfen.

Fatma Aydemir liest das erste Kapitel aus «Dschinns» und macht damit den Auftakt zum vielstimmigen Hörbuch. Das ganze Hörbuch findest du hier.

Du zeichnest eine Familie, die in den Beziehungen zueinander erstarrt ist. Die Probleme können kaum offen angesprochen werden. Zum Teil haben sich die Personen völlig auseinandergelebt. Was hält diese Familie noch zusammen?

Ich glaube, dass die Themen und Probleme, die diese Familie hat, gar nicht so unüblich sind. Einander anschweigen, Probleme nicht ansprechen, zu Hause eine Rolle performen, die man vielleicht gar nicht erfüllen will… Was sie zusammenhält? Zum einen auf jeden Fall dieses Konstrukt Familie, das sehr alt ist und immer noch oft als Ideal des Zusammenlebens gilt. Aber natürlich verbindet diese Figuren auch eine gemeinsame Geschichte, eine Liebe, die verschiedene Formen annehmen kann. Und der Spiegel, den eine Familie für das eigene Selbst sein kann. Je älter Kinder werden, desto stärker entfernen sie sich von den Eltern oder auch Geschwistern als Vorbildern. Stattdessen geht es um die Konstruktion der eigenen Identität, die auch immer ein Abkämpfen an den Identitäten der anderen ist. Deswegen finde ich auch die Geschichte von Sevda, der ältesten Tochter, so interessant. Sie ist die einzige Figur, die mit der Familie bricht. Und dann doch für die Beerdigung zurückkehrt und das Gespräch mit ihrer Mutter sucht.

Es geht immer auch darum, wer das Ganze mitträgt, wer zuguckt, wer nicht einschreitet.

In diesem Gespräch wirft Sevda ihrer Mutter unter anderem vor, dass sie patriarchale Strukturen genutzt hat, um ihre eigenen Entscheidungen nicht als ihre Entscheidungen hinstellen zu müssen. Siehst du Frauen in dem Sinne auch als Mittäterinnen in der Aufrechterhaltung des Patriarchats?

Ich finde es immer schwierig, nur mit den Begriffen «Täter» und «Opfer» zu arbeiten. Es gibt viel mehr Rollen in einem solchen Machtgefüge. Aber das Patriarchat hat sich nicht so lange gehalten und ist nicht so stark, weil Männer einfach böse sind und Frauen die armen Opfer. Sevda wirft ihrer Mutter vor, dass sie sehr aktiv daran beteiligt ist, diese Strukturen aufrechtzuerhalten und ihren Kindern damit dieselbe Gewalt antut, die ihr selbst angetan wurde. Das finde ich eine sehr wichtige Beobachtung, die wir auf verschiedene Machtstrukturen übertragen können: Es geht immer auch darum, wer das Ganze mitträgt, wer zuguckt, wer nicht einschreitet. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ja, Frauen sind genauso daran beteiligt, dass andere Frauen oder Queers unterdrückt werden. Und gleichzeitig bedeutet Emanzipation und die Abschaffung des Patriarchats eben auch, dass sich Männer aus diesem Machtgefüge befreien müssen.

Das Buch ist in sechs Kapitel aufgeteilt. Jedes der Kapitel ist aus der Sicht einer anderen Person und in einer für sie passenden Sprache geschrieben. Hattest du bei einer der Figuren besonders Mühe, eine Sprache für sie zu finden? 

Ich hatte bei allen irgendwie Mühe. Aber die Kapitel aus der Sicht von Ümit und Peri gingen mir am leichtesten von der Hand, da sie mir besonders nahestehen. Ümit auf der einen Seite aufgrund des Alters. Zu der Zeit als das Buch spielt, ist er zwei Jahre älter als ich es damals gewesen wäre. Es fällt mir auch leichter über Figuren in der Pubertät zu schreiben. Da kann mit einer grossen Bandbreite an Emotionen gearbeitet werden und alles wird ganz schnell existenziell. Das gefällt mir. Mit Peri dagegen habe ich die meisten biographischen Überschneidungen. Ich habe, wie sie, in Frankfurt studiert und auch ich war die erste in meiner Familie, die studiert hat. Bei den anderen Figuren habe ich auf jeden Fall länger gebraucht. Ich habe mir für jede Figur sehr lange Zeit genommen, um ein Gefühl für ihre Sprache zu bekommen, damit aus dieser heraus dann auch eine Geschichte entstehen kann.

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Die beiden Kapitel der Eltern Hüseyn und Emine, die am Anfang und Ende des Buches stehen, sind als einzige in der zweiten Person geschrieben. Ein «Du», das auch ein «Ich» impliziert. Wer ist dieses «Ich»?

Es gibt keine eindeutige Antwort darauf. Erst dachte ich, es ist der Dschinn, der zu ihnen spricht. Danach dachte ich, es sei eine Art Selbstgespräch. Es könnte auch andere Bedeutungen haben. Ist es der Todesengel Azrael? Ist es ihr Gewissen? Ich kann aber sagen, warum ich diese Form aus Autorinnen-Perspektive gewählt habe: Es war eine pragmatische Entscheidung, um den Graben zu überbrücken, der zwischen mir und den beiden Figuren existiert. Sie gehören zur Generation meiner Grosseltern, der ersten Generation, die eingewandert ist. Mit diesen Menschen bin ich zwar aufgewachsen, aber ich habe während des Schreibens gemerkt, dass es sehr schwierig ist, etwas aus ihrem Innenleben zu erfahren, weil sie so wenig preisgegeben haben oder preisgeben wollen, von ihren Verlusten, ihren Traumata, ihrer Migrationserfahrung. Mit dem «Du» konnte ich die Distanz zwischen uns markieren. Und mich gleichzeitig an die Figuren herantasten.

Wieviel hast du für diesen Roman recherchiert?

Ich habe viel mit Leuten aus verschiedenen Generationen gesprochen. Um die Unterschiede zwischen den Generationen und ihren Erfahrungen zu verstehen. Aber auch um zu verstehen, wie es damals in den Siebziger- und Achtzigerjahren war, als ich noch gar nicht gelebt habe. Eine Sache, die mich zum Beispiel überrascht hat: Viele der Arbeiter*innen wussten überhaupt nichts von der deutschen Geschichte. Sie stammten aus ländlichen Gegenden der Türkei und hatten kaum Schulbildung genossen. Sie kamen 20 Jahre nach Ende des Dritten Reichs und haben teilweise erst Monate oder Jahre nachdem sie angekommen sind, überhaupt von der Shoa erfahren.

Ohne das eine mit dem anderen vergleichen zu wollen, eröffnet die Wahrheit über den Holocaust die Möglichkeit auch über andere Geschichten von Unterdrückung, Verfolgung und Genozid Fragen zu stellen.

Im Roman gibt es diese eine eindrückliche Szene, in der Emine ganz zufällig aus dem Fernsehen vom Holocaust erfährt und sich fühlt, als würde ihr jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf kippen.

Ich wollte thematisieren, wie es sich anfühlen muss, davon so beiläufig zu erfahren, und das in einer Gesellschaft, in der man sich sowieso schon latent unwohl und unwillkommen fühlt. Gleichzeitig stellen sich für Emine auch Fragen über die eigene Herkunft und Verfolgungsgeschichte: Weshalb darf ich in der Türkei kein Kurdisch sprechen? Ohne das eine mit dem anderen vergleichen zu wollen, eröffnet die Wahrheit über die deutsche Geschichte doch die Möglichkeit auch über andere Geschichten von Unterdrückung, Verfolgung und Genozid Fragen zu stellen.

Hast du die Absicht, weiter über die Familie Yılmaz zu schreiben? Oder ist diese Geschichte für dich abgeschlossen? 

Ich habe bisher nicht die Absicht, will es aber auch nicht ausschliessen. Sicher nicht jetzt, aber vielleicht habe ich in ein paar Jahren den Wunsch, eine der Figuren näher anzuschauen, die kein eigenes Kapitel im Buch erhalten hat. Vielleicht könnte dazu noch eine Geschichte entstehen.