All die Gefühle, die vorbeifliegen

von Bernhard Giger 27. August 2020

Im Affspace an der Berner Münstergasse 4 zeigt Alexander Jaquemet die Installation «Wie der Eisvogel Feuer fängt». Er bespielt dafür auch den bisherigen Ladenraum des Bestattungsgeschäfts im gleichen Haus. Dort zeigt er Fotografie, im Hauptraum der Offspace-Galerie Malerei.

Es war ein unscheinbarer Ort an der unteren Münstergasse. Meistens ist man an dem Laden vorbeigegangen, ohne richtig hinzuschauen. Man wusste ja, was drinnen steht, dieser geschmückte Holzsarg. Vor 45 Jahren hat dort Egli Bestattungen & Co. das erste Geschäft eröffnet. Der Hauptsitz der Firma ist längst an einem anderen Ort, das kleine Ladenlokal in der Altstadt war mehr wie eine Vitrine: Ein diskreter Hinweis am Wegrand, dass trotz aller Eile, die du gerade vorlegst, alles einmal zu Ende geht.

Tschüss Tod, hallo Leben

Doch der Sarg steht nicht mehr dort. Nicht mehr der Tod macht hier Geschäfte. Leben kommt. Bis ins nächste Jahr kann Affspace den Ladenraum zwischennutzen. Die 2016 von Paula Sansano und Nicola Schneller im Zunfthaus zum Affen eröffnete Galerie verstand sich zunächst vor allem als Ort der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Architektur. Von Beginn an arbeitete sie aber spartenübergreifend, insbesondere die Fotografie erwies sich dabei als ideale Ergänzung: Das eine, die Fotografie, vermisst das andere, die Landschaft und was darinsteht. So wurde – und so wird ganz besonders jetzt mit der aktuellen Ausstellung – Affspace zum angesagten Berner Offspace. Schön, in Zeiten der wiedererwachenden Kultur nach der Corona-Lähmung.  

Alexander Jaquemet hat den Egli-Raum zuerst dokumentarisch fotografiert. Dann reifte im Gespräch mit Paula Sansano und Kuratorin Meret Arnold die Idee einer Ausstellung, einer Installation. Jaquemet hat den Raum umfunktioniert, den Todeshauch herausgewischt, Lebenszeichen hineingetragen. Er hat ihn rundum gekalkt, eine weisse, eine reinigende Schicht über das alte Holztäfer gelegt. Das Schichtenlegen, ein eigentliches Übereinanderschichten von Materialien, Zeiten und Geschichten, das wurde zum verbindenden Motiv dieser Ausstellung, vom Herrichten des Raums über die Herstellung der Fotografien bis zu den Ölbildern auf Leinwand.

Die Flugbahn der Schmetterlinge

In der Ardèche, seinem neben Erlach zweiten Lebens- und Arbeitsort, hat Alexander Jaquemet Mitte der Zehnerjahre die Schmetterlingsbilder gemacht, die er nun ausstellt. Mit der Kleinbildkamera ist er lange im Gras gesessen und hat gewartet. «Die Flugbahn der Schmetterlinge kannst du nicht vorhersehen», sagt er. Aber sie sind ihm dann doch ins Bild geflattert, mehr noch, sie haben ihm die Landschaften, durch die sie streiften, neu gezeichnet, die Konturen der Sträucher und Bäume, den Verlauf der Hügel am Horizont, das Ziehen des Himmels. Jaquemet erwähnt die ungeheure Wirkung «dieser kleinen Schmetterlinge» auf die Landschaft: «Wenn du ihnen mit dem Auge folgst, ist es wie ein Gefühl, das vorbeifliegt.»

Jetzt fliegt es durch den Raum an der Münstergasse. Auf kleinformatigen, schwarz-weissen, an einem Faden aufgereihten Bildern. Wie auf den Wänden: in Schichten gearbeitet. Ausgangspunkt war ein hauchdünnes Reispapier, auf das die Bilder gedruckt wurden. Die Drucke wurden durch ein Wachsbad gezogen, wie es einst von grossen Meistern in der Wachsmalerei verwendet wurde. Je nach Bedarf lässt sich die Oberfläche des Bildes danach polieren, um mehr Tiefe zu erzeugen. Für Jaquemet schliesst sich mit diesem Produktionsverfahren ein Kreis: Er hat die Bilder digital aufgenommen und analog, in alter, schon fast vergessener Technik, verarbeitet.

Zwei Dinge gehören zu den Bildern der Schmetterlinge, diesen leisen Visionen von etwas anderem, Glück vielleicht oder einfach einem seltsamen, fremden Duft, der lockt. Das eine ist ein Pilz in Penisform auf schwarzem Grund, ein richtiger Störenfried in dem sonst friedlichen Ambiente. Eine Stinkmorchel – die, sagt Jaquemet, tatsächlich «wie fünf tote Tiere stinkt.». Man sagt auch Leichenfinger, weil der Pilz oft auf Friedhöfen aus Gräbern gewachsen ist. Für die Nachwelt war das jeweils Anzeichen dafür, dass die verstorbene Person Sünde mit ins Grab genommen hat. Der Pilz, der Todesbotschafter, ist die Referenz an die frühere Funktion des Raums. Die Zitrone auf einem Podest in der Ecke hingegen, die nicht unbeabsichtigt auch noch etwas Kalkfarbe abbekommen hat, sie ist zwar säuerlich, aber auch erfrischend; sie steht für neues Leben.

Im Hauptraum ein paar monochrome Ölbilder, bestimmend vor allem eines, grossformatig, in hellem Blau. Für Alexander Jaquemet sind sie Antworten auf die Fotografien, Spiegelbilder, Echos, je nach dem. Auch hier wieder Schichten, die Materialität der groben Leinwand schimmert durch die Farben. Und so scheinen auf dem grossen, blauen Grund auf einmal, weiss und leicht, auch Schmetterlinge zu fliegen, ein ganzer Schwarm diesmal. Damit ist der lahme, alte Tod von gegenüber endgültig vertrieben.

Orientierung, Suche, Auflösung

Die Installation im Affspace – der Titel «Wie der Eisvogel Feuer fängt» bezieht sich auf eine Zeile des in Südfrankreich lebenden Waadtländer Lyrikers Philippe Jacottet –, die Installation ist Alexander Jaquemets dritte Einzelausstellung in Bern. Angefangen hat es 2012 im Kornhausforum mit «Rabenland», der Erkundung seiner näheren Umgebung, der Weiten des Seelands. 2017 folgte in der Galerie Béatrice Brunner unter dem Titel «Lieu» eine Ausstellung der Waldbilder, als begleitende Skizzen dazu gestellt waren kleine, flink hingemalte Aquarelle.

Zusammen mit der Affspace-Installation markieren die drei Ausstellungen bestimmte Phasen im bisherigen Schaffen des 1978 geborenen Fotografen. «Rabenland» war Orientierung – wo lebe ich, was sehe, was spüre ich hier. «Lieu» war Suchen und Ankommen. Und der erste Höhepunkt als freier, künstlerisch arbeitender Fotograf: Jaquemet war, nicht nur bildlich, in der Mitte des Waldes angelangt, er hatte den Ort gefunden, den er sich in seinen Träumen vorgestellt hatte, und er konnte ihn fotografieren.

Jetzt, mit den Schmetterlingen, kündet sich eine neue Bewegung an, ein Aufbruch vielleicht, vielleicht noch eher eine Art Auflösung. Die Grenzen zwischen Fotografie und Malerei sind fliessend geworden, nicht mehr kleine Aquarelle wie noch bei Béatrice Brunner, sondern Grossformate. Die Malerei, sagt er, sei das erste Mal grösser als die Fotografie. Die Kamera wird er kaum plötzlich daheimlassen und nur noch den Pinsel mitnehmen. Aber auf neue Wege künstlerischer Auseinandersetzung hat sich Alexander Jaquemet schon gemacht. Spannend.