Der Sommer in Bern lädt zum Geniessen ein. Freibäder an jeder Ecke der Stadt oder Vitamin D gleich direkt an der Aare im Bremgarten aufsaugen. Kulturangebote, wo das Auge hinreicht, trotz Sommerpause. Gurtenfestival und Gugusgurten, die Pride Bern, das Buskers, die Lorrainechilbi oder das No Borders No Nation bei der Schütz.
Da das Wetter in der Schweiz schneller umschlägt als meine Stimmungsschwankungen vor der Periode, versuchte ich diesen Sommer jede freie Minute in der Aare bei knappen 20 Grad Wassertemperatur zu geniessen.
Jetzt muss ich ins Wasser, jetzt oder nie!
Obschon ich Semesterferien hatte, fühlte sich das Ganze aber eher wie ein Gehetze an. Fototermin in Zürich, danach ab ins Marzili. Sitzung in der Werkstatt Lorraine, danach ab ins Lorrainebad und dann an ein Konzert. Nach acht Stunden Seminararbeit schreiben, ab ins Wylerbad. Beim Gurten vorbeischauen, um sich gleich vor Ort mit einer Freundin zum Gugusgurten zu verabreden. Beim Gugusgurten gleich die Pläne für die morgige Bungie-Aaresession besprechen, um sich bei dieser mit anderen Freund*innen für die Pride anzumelden.
Klingt das für Sie erholsam? Überraschung: Für mich auch nicht. Aber weshalb tun wir uns das an? Jede Minute unserer freien Zeit zu verplanen? Nach Erholung klingt das irgendwie nicht.
Ist unser Alltag so stressig, dass die Energie nicht ausreicht, um Freund*innen zu treffen und sich eine Auszeit zu gönnen, dass wir in den Ferien alles zu kompensieren versuchen?
Oder ist es womöglich die Angst, etwas zu verpassen, «Fomo» wie wir Jungen zu sagen pflegen: «Fear of missing out».
Für ein Sandwich reicht es noch knapp, da ich mich gleich noch mit einem Freund treffe und mit ihm auf den Zug gehe, um an einen Auftritt zu hetzen.
Ich glaube, bei mir ist es «Fomo»: Was, wenn ich genau den letzten heissen Tag verpasse, um am Wasser zu sein? Was, wenn ich nicht an die Pride gehe und genau an dem Tag Beyoncé in Bern ist. Ja, was dann?
Was ist dann, frage ich mich, währenddem ich mein Handy und die Birkenstöcke einpacke und die fünffach eingewickelte Aaresackklappe auf die die Dichtheit überprüfe, um danach drei Treppentritte ins kalte Wasser zu gehen und zu denken: Jetzt muss ich ins Wasser, jetzt oder nie!
Eine angenehme Kälte, an die sich meine Füsse bereits gewöhnt haben, steigt den Oberkörper entlang auf. Stille. Nun kann ich mich treiben lassen, für mindestens zehn Minuten.
Was, wenn ich jetzt nicht reingesprungen wäre? Wäre ich gar nicht mehr in die Aare? Vielleicht würde ich mich mies fühlen, wenn die nächste Woche nur Gewitter über Bern toben würden und ich die letzte Chance verpasst hätte.
Nach zehn Minuten erreiche ich den Steg, um aus der Aare herauszuklettern. Schön wars denke ich mir. Eine Abkühlung. Aber ganz ehrlich: auch nicht mehr. Was wäre, wenn ich jetzt keinen Aareschwumm gemacht hätte? Nichts.
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Stattdessen habe ich meine 45 minütige Mittagspause geopfert, um gehetzt zum Altenbergsteg zu laufen, was mich beinahe 15 Minuten gekostet hatte. Für ein Sandwich reicht es noch knapp, da ich mich gleich noch mit einem Freund treffe und mit ihm auf den Zug gehe, um an einen Auftritt zu hetzen.
Ich glaube, nach diesem Sommer habe ich «Fomo». Angst, eine stressfreie Minute zu verpassen, denke ich.
Mein Handy klingelt auf dem Weg zum Bahnhof, es ist meine Schwester, die zum YB Match einlädt. Ich schaue kurz in den Kalender und antworte: «Ja sicher, davor habe ich aber noch mit meiner besten Freundin zum Abendessen abgemacht, aber den Match, den kann ich natürlich nicht verpassen».