Am Anfang ist es wüst und leer und dunkel. Ein Wurzelstock hängt über der Bühne, wird auch auf deren Hintergrund projiziert (Bühne Till Kuhnert). Aus dem Sand darunter schälen sich halbnackte Menschen. Sechs Männer robben ans Licht; der dumpfe Beat von György Ligetis «Lux aeterna» pusht sie hoch und höher, bis sie senkrecht stehen und gehen.
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Wir erleben den körperlichen Ausdruck der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung zum aufrechten Gang. Er zeigt, welche Kraft es kostet, sich aus der Erde zu erheben. Er lässt uns Zuschauende die Kraft der Arme und Beine, der Hände und Schultern spüren, die es dazu braucht. Wir ahnen, was für ein Zusammenspiel von Kopf und Körper es braucht, um die fragile Balance der Wirbelsäule, der Hüften zu finden, um sich gerade zu halten. Tanz ist dafür die bestmögliche Verkörperung einer Ahnung, die sich nicht beschreiben, sondern im besten Fall – hier – zeigen lässt.
Die Äpfel, der Apfel
Die sechs Männer bilden eine Gruppe. Auf den Rücken der anderen balanciert einer und pflückt vom Wurzelstock leuchtend rote Äpfel. Alle spielen damit, werfen und fangen sie. Ein Rhythmus stellt sich ein, Gemeinsamkeit. Bis einer den letzten verbliebenen Apfel abnimmt und hineinbeisst, in Zuckungen verfällt, untermalt von lautem mechanischem Lärm. Alles ist anders, vom Himmel fallen Kleider, schwarze und weisse.
Mit dem Anprobieren der Kleider verändert sich der Anblick der Menschen, deren Ausdruck, ihre Bewegungen, ihre Haltung. Maskulinität wird Feminität, High-Heels bestimmen den Gang, Röcke verleihen Hüftschwung, Kleider machen Menschen.
Die Menschen entdecken am Wurzelgeflecht Stücke, die Arme sein können, Beine, ein Kopf, probieren die Glieder an sich selbst aus, bauen gemeinsam eine menschliche Figur, schwarz, ein siebentes Mitglied der Gruppe. Unvermittelt setzt Françoise Hardys Chanson von 1965 ein: «Mon amie la rose», eine jugendlich träumerische Schöpfungsgeschichte von Werden und Vergehen mit dem wiederholten Satz «On est si peu de choses».
Was Tanz einem eröffnet
Der Vorhang schliesst sich. Was habe ich erlebt? Sechs Männer, die mit der geballten Kraft ihrer ausdrücksgeübten Körper in mir eine Entwicklungsreise der Menschheit anklingen lassen, die in Afrika beginnt. Die wir aus der Bibel zu kennen glauben, irgendwie. Die den einen Schöpfungsmythos Evas aus Adams Rippe andeutet und den anderen, nach dem Gott sie als selbständiges Wesen formte. Die ein Paradies zeigt, das kein Garten Eden war, sondern ein unwirtlicher Ort, dessen Zauber und Bedeutung die tätigen Menschen ausmachten.
Habe ich das wirklich erlebt? Weisen mir Bruchstücke angelernter Kultur den Weg und verbarrikadieren weitere Möglichkeiten des Verstehens? Oder ist der Tanz einfach Bewegung, Ausdruck mit dem und durch den Körper, nichts weiter? Welche Bedeutung kommt der Musik zu, die in weiter Vielfalt die Bewegungen mitformt, vorantreibt, untermalt, von Ligeti über Pergolesi zu Françoise Hardy?
«Upside Down» betitelt der Choreograph Etienne Béchard sein Stück, das er im Auftrag von Bühnen Bern geschaffen hat. Es könnte, so wie ich es gesehen habe, auch «Bottom up» heissen oder – wie es in der bildenden Kunst oft vorkommt – «Ohne Titel». Der Choreograph, die Tänzer, das Bühnenbild, die Musik bieten Anregungen. Wir Zuschauende, Zuhörende machen daraus Sinn. Unseren persönlichen Sinn. Schon der der Sitznachbarin ist ein anderer.
Das Private ist öffentlich
«Double You See» heisst das zweite Stück des Tanzabends. Ebenfalls ein Auftragswerk. Caroline Finn hat es erarbeitet. Der Unterschied zu «Upside Down» könnte kaum grösser sein: Es spielt heute im Irgendwo einer Toilettenanlage einer U-Bahn-Station, weiss gekachelt, eine Reihe von WC-Sitzen, eine Reihe Pissoirs, ein Waschbecken mit Spiegel. Ein Labor menschlichen Suchens.
Acht Frauen, zuerst in identischen türkisfarbenen Pyjamas, dann in knalligem unterschiedlichem Outfit, ertasten, erkämpfen, ertanzen ihre Identität in vereinzelten Suchbewegungen und in gemeinsamen Kämpfen (Kostüme Catherine Voeffray). Mario Batkovics Akkordeon gibt dem Geschehen eine kreisende Form in immer neuen Ansätzen und Anläufen. In aufgesetzter Aufregung tanzen alle sich selbst, einsam, selbstverliebt.
Die einzige Ausnahme bildet ein Äffchen, das eine Puppe stillt. Bald zieht es sich die Maske vom Antlitz und tanzt als Frau frei und sebstvergessen ein zartes Solo. Nicht lange. Eine andere Frau stülpt ihr die Maske wieder über und trägt sie, nun wieder ein Äffchen, liebevoll die Treppe hinauf aus dem Bild.
Begehren und Identitäten
Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht. Die zentrale Aussage in Simone de Beauvoirs 1949 erschienenem Buch «Le deuxième sexe» knüpft an Rousseaus Satz von 1762 an: «Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten.» Nicht primär biologische, sondern gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche Vorstellungen sind es, die Frau und Mann, reich und arm, frei und unfrei, oben und unten bestimmen.
In unserer Ungleichheit sind wir alle gleich einsam.
Was die Art des Begehrens, die persönliche sexuelle Identität betrifft, gibt es seit langem nicht mehr nur das eine und das andere Geschlecht, sondern eine stets weiter aufgefächerte Vielfalt, die letztlich in 8 Milliarden individuelle Identitäten mündet, da nie ein Mensch sich genau gleich fühlt, verstanden fühlt und verhält wie ein anderer. Jegliche Einteilung des Begehrens in anerkannte Formen ist deshalb eher Einordnung als Befreiung. Über den biologischen Unterschied hinaus ist nichts bestimmt. In unserer Ungleichheit sind wir alle gleich einsam. Dabei gibt es nur «le troisième sexe.»
Weitere Aufführungen ab dem 8. Mai. www.buehnenbern.ch