Journal B: Wie seid Ihr auf die Idee des Buchs gekommen?
Anton Lehmann: Das geht auf meine Trotzkistenvergangenheit zurück – ein schriftliches Interview für das Buch «Jahre der Hoffnung», erschienen 2019 bei edition 8. Ich verfasste eine knappe Seite zur WG 67i, die ich 1974 gegründet hatte und wo ich bis 1980 wohnte. Das brachte mich nach der Pensionierung auf die Idee, mich über den weiteren Verlauf der WG umzuhören, aus lauter Gwunder und zunächst ohne Publikationsvorsatz.
Und wie kam Fred Arm hinzu?
Er gehörte als ehemaliger Bewohner zu den 60 Interviewten und hat dann viel zur Erleuchtung der studentischen Unipolitik in den 80er Jahren beigetragen und vor allem journalistisch Akzente gesetzt. Nicht zuletzt hat er auch Kapitel 4 «Versuch einer Einordung» unter Beizug von Roland «Duke» Herzog vorangetrieben.
‚Ein bisschen Nostalgie schadet nie‘, sagte mal jemand.
Was war Dir inhaltlich wichtig?
Im Gegensatz zum erwähnten Trotzkistenbuch, das «alternatives Wohnen» eher theoretisch abhandelte, interessierte mich vor allem die WG-Geschichte mit ihren Protagonisten und der Kontext jener Zeit. Es galt, die ex-Bewohner*innen aufzuspüren und etwa 60 Interviews zu führen, was viel Erhellendes zur damaligen politischen Situation und Politisierung der 67i-Bewohner:innen hervorbrachte. Die Verbindung zu den politischen Bewegungen in Bern – Nach-68er, studentische Unipolitik, 80er Jugendbewegung, Reitschule-Rückeroberung – lag da geradezu auf der Hand. Aber auch der Beginn der selbstverwalteten und basisdemokratischen Alternativbetriebe. WG-intern waren das Basisdruck, Umwältlädeli, Cuboro-Spiel, Planwerkstatt, Nica-Bananenvertrieb oder das Nähatelier. Generell gesagt geht es um eine auch selbstkritische Aufarbeitung der inneren und äusseren Wirkungsweise dieser Polit-WG.
Anton Lehmann, geb. 1946, war Mitgründer der WG, die von 1974 bis 1993 existierte. Er studierte Sozialwissenschaften und war bis zur Pensionierung wiss. Mitarbeiter der Eidg. Hochschule für Sport Magglingen.
Das Buch hat denn nebst Anekdotischem auch einordnende und analytische Aspekte…
Ja, die Szene der grossen WGs war Kristallisationspunkt für politische Bewegungen und für alternatives Gewerbe. WGs waren offene Häuser, mit viel Raum und Zeit für Sitzungen und Feste ohne die verpönte Polizeistunde, Zeit und Raum auch für neue Beziehungsformen. Und dann auch die Bündnispartnerschaften zwischen WGs und Hausbesetzer*innen, studentischer Universitätspolitik und der autonomen Politszene. Wobei die WG der ersten beiden Generationen nicht eigentlich als WG auftrat. Vielmehr agierten ihre Mitglieder meist individuell in Projekten und Aktionen. Anders dann die dritte Generation, wo sich die WG intern und extern als Einheit präsentierte.
Welche Rolle spielte die Nostalgie als Beweggrund, ein solches Buch zu schreiben?
«Ein bisschen Nostalgie schadet nie», sagte mal jemand. Beim Aufräumen meines Archivs zuhause stiess ich auf teils in Vergessenheit geratene Spuren, die mich wieder zu faszinieren begannen. Nostalgie bedeutet aber auch, die eigene Geschichte wertzuschätzen und an deren Kraft zu erinnern. Allerdings sollte diese nicht unreflektiert sein, wie es beispielsweise die SVP mit den alten Eidgenossen tut. Im Buch finden sich nicht wenige selbstkritische Bemerkungen, beispielsweise über den grassierenden Eigensinn, die Überbewertung der Freiheit nach dem Auszug aus dem Elternhaus, Bemerkungen zum «goldenen Fallschirm des Elternhauses» und zur Integrationskraft des Kapitalismus, die viele Leute aus dem 67i auf dem Arbeitsmarkt zu spüren bekamen.
Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit: Was bleibt von Eurer WG, jetzt wo das Haus abgerissen ist?
Hier möchte ich unsere Erfahrungen mit kollektiven Wohnformen erwähnen, auch berufliche Entwicklungen, politisches Engagement und Wertehaltungen. Und erste Leserreaktionen zeigen, dass der Teil über das Wohnen im Alter für ältere Semester offenbar von aktuellem Interesse ist. Prägend ist sicher auch unser Umgang mit Diversität, mit Randständigen sowie die Auswirkungen der Frauenemanzipation auf das Geschlechterverhältnis.
Wie stark wolltet Ihr den «wissenschaftlichen» Ansatz gewichten?
Das letzte Kapitel «Versuch einer Einordnung» will Anregungen geben, die damalige Zeit kritisch zu sichten. Wir haben uns Gedanken gemacht, welche Werte in den verschiedenen Phasen der WG eigentlich dominierten und kamen zum erstaunlichen Schluss, dass die damalige Zeit sich ganz gut mit den Werten der Französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – heute Geschwisterlichkeit – verstehen lässt. Wichtiges Anliegen war, dass die im Buch aufgeführten Geschichten möglichst faktengenau beschrieben wurden. Erinnerung ist aber immer auch subjektiv. Das gilt für Beispiele wie die Fichenaffäre, die zum Buchtitel führte, für antimilitaristische Aktionen und Militärdienstverweigerungen, für die Herleitung der 68er Bewegung und der folgenden Verzettelung der Linken, für Aktionen gegen das universitäre Establishment oder für die Rückeroberung der Reitschule mithilfe der illegalen «Strafbars». Im Vordergrund stand deshalb stets die journalistische Überprüfung der subjektiven Aussagen der 67i-Bewohner*innen.
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Zur Archivsituation: Woher habt ihr all die Erinnerungen und Bilder? Hat da jemand gezielt auf ein Buch hin gesammelt?
Nicht eigentlich. Förderlich war der persönliche Kontakt mit den Interviewten und das dabei entstandene Vertrauensverhältnis. Der Grossteil der Dokumentation stammt aus dem Fundus der Ehemaligen. Viele brachten von sich aus Erinnerungsstücke und Bilder zum Interview mit oder durchstöberten danach ihr Kellerarchiv.
Die Struktur des Buchs ist für mich nicht ganz klar, gewisse Teile leiden unter Redundanz.
Ich denke, die Redundanzen halten sich in Grenzen. Aber besonders die Beschreibungen des WG-internen Alltags, Abläufe und Grundregeln zum Kochen, Essen, Putzen und zur Konfliktbewältigung sowie zu Beziehungsfragen wurden mehrmals, also in allen drei WG-Generationen, thematisiert – auch weil sich in diesen Fragen bestimmte Entwicklungstendenzen zeigten.
Unser erstes Subventionsgesuch um einen Förderbeitrag wurde noch abgelehnt…
Wie gross war die Bereitschaft der Betroffenen, Auskunft zu geben? Wie viele wollten Anonymität?
Eine Gruppe der mittleren Generation wollte aus nachvollziehbaren, vor allem beruflichen Gründen Anonymität, was zum Entscheid führte, in der Regel nur die Vornamen im Buch zu nennen. Ganz wenig angefragte Ex-Bewohner*innen wollten sich überhaupt nicht äussern, hauptsächlich aus privaten Gründen. Das Thema «Kinder in der WG» etwa konnte deshalb nicht in der gewünschten Form entwickelt werden.
Wie sind die bisherigen Reaktionen auf das Buch?
Die Auflage beträgt 1000 Exemplare. Bisher wurde fast ein Drittel abgesetzt. Das Buch wird von berufenen Stellen, so auch im «Bund», als hervorragend gewürdigt. Von der Berner Kulturförderung wird die WG-Geschichte als Beitrag zur Berner Geschichte angesehen, besonders derjenigen der ausserparlamentarischen Opposition. Das mussten wir den Sponsoren allerdings unter Verweis auf die 60 Interviews zuerst einmal nahelegen. Denn unser erstes Subventionsgesuch um einen Förderbeitrag wurde noch abgelehnt…