Gartenstadt Weissenstein: das sind 213 Reiheneinfamilien- und acht Mehrfamlienhäuser. Auffallend sind vor allem die grossen Gärten, die zu jedem Einfamilienhaus gehören. Ein Blick auf den Stadtplan zeigt, dass da rund um einen «Siedlungsweg» (!) und einen Bundesbahnweg Strassennamen auftauchen, die an Pioniere bzw. Pioniertaten des Eisenbahnbaus erinnern. Da gibt es einen Brünig-, einen Simplon-, einen Gotthard- und einen Lötschbergweg, da wird dem Politiker und Eisenbahnpionier Hermann Dietler und dem Eisenbahn-Gewerkschafter Hans Düby die Ehre erwiesen. Und gibt es noch eine Trachsel-Strasse. Franz Trachsel war Planer, Architekt und Realisator der Genossenschafts-Siedlung Weissenstein.
Die Geschichte
Wie kam es dazu? Es herrschte Wohnungsnot in der Bundesstadt am Ende des Ersten Weltkriegs. Vorübergehend mussten die Behörden sogar Obdachlose in Gasthäusern oder Schulhäusern unterbringen. Die noch junge SBB, die ihre Generaldirektion in Bern hatte, und die der Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Ausbau des Schienennetzes einen tüchtigen Entwicklungsschub gebracht hatte, war für ihre wachsende Zahl von Angestellten auf der Suche nach günstigem Wohnraum. Eine Wohnbaugenossenschaft sollte es möglich machen. Mit diesem Anliegen stiessen die Eisenbahner bei der Stadt auf offene Ohren. Die Stimmbürger bewilligten einen Baurechtsvertrag mit der EBG Bern. Die erste Bauetappe konnte 1920 in Angriff genommen werden.
Der Anfang einer Idee
Hundert Jahre später wohnen in der Siedlung Weissenstein 820 Menschen, davon 400 Kinder. Die Wohnungen werden von der EBG verwaltet und (vorwiegend) an Angestellte der SBB und der öffentlichen Verwaltung vermietet. Die Wartelisten sind lang. Die Wohnlage ist begehrt. Für monatlich zwischen 1550 bis knapp 2000 Franken wohnt es sich gut im Häuschen oder im Wohnblock: stadtnah, im Grünen und mit einer Wohnform, die in Bern – verglichen mit anderen Städten – noch eher untervertreten ist. Dies obwohl die EBG immer aktiv war und noch etliche Nachfolgeprojekte realisierte und in den letzten Jahren deren Verwaltung professionalisierte. All dies kann jetzt nachgelesen werden im Jubiläumsbuch «Welcome home», das in diesen Tagen erscheint. (Hier und jetzt-Verlag, ISBN 978-3-03919-471-1)
Das Jubiläumsbuch
Eine Jubiläumsschrift ist nie ein Zufallsprodukt. Sie steht für ihre Entstehungszeit und erzählt – nebst der eigentlichen Geschichte – über die aktuelle Bild- und Erzählsprache auch viel über die Grafik und das Geschichtsverständnis der Nachfolgegeneration. Die EBG hat das begriffen. Sie hat sich ihre Jubiläumsschrift von aussenstehenden Fachleuten gestalten lassen. Von der Kulturwissenschaftlerin Susanne Leuenberger und vom Historiker und Journalisten Samuel Geiser. Die beiden haben ihrerseits Spezialisten beigezogen, so etwa die Historikerin Anna Bähler, den Humangeografen Daniel Mullis, den Stadtwanderer und ehemaligen Redaktor der Architekturzeitschrift Hochparterre, den Bauberater bei der Städtischen Denkmalpflege und vor allem viele Bewohnerinnen und Bewohner. Und – ganz wichtig! – sie haben mit Ruben Hollinger einen jungen, begabten Fotografen gefunden, dem es gelingt, mit seinen Bildern einerseits eine Wohnwelt einzufangen, die so schweizerisch ist, dass man sie ins Museum stellen möchte, der aber anderseits auch mit Tanzszenen auf einem Bauplatz eine zukunftsweisende Note ins Buch bringt.
Entstanden ist ein Werk, das lebendig, kritisch und sehr originell gestaltet ist, keine verklärte Lobhudelei der Gründergeneration, wie es noch zum 50-Jahr-Jubiläum angezeigt schien. Die historischen Bilder sind sparsam eingesetzt zugunsten einer Homestory der ungewöhnlichen Art. Es ist kein Insiderbuch für die Archive. Es ist ein Werk, das dank Porträts von Bewohnerinnen und Bewohnern und Interviews mit engagierten Vorstandsmitgliedern Wissenswertes über das Leben in Genossenschaftssiedlungen bzw. -wohnblocks vermittelt. Zum Beispiel, dass es auch hier die üblichen nachbarschaftlichen Minenfelder gibt (Haustiere, Kinderlärm, Musikspiel …), und dass man sie auch hier irgendwie immer lösen kann. Oder, dass die Gärten in der ersten Siedlung so gross sind, weil die Gründergeneration noch Kartoffeln für den Eigengebrauch setzen musste, dass die EBG mit dem Fellergut, dem Schwabgut, der Häberlimatte noch einmal ganz anders baute als in ihrer Pioniersiedlung usw. usf.
Die Zukunft
Und man erfährt auch, was kluge Stadtplanung ausmacht und was Grundrisse, Balkongrösse oder Steckerplatzierung in Schlafzimmern über die gängige Familienform und angesagte Wohnformen in einer bestimmten Zeit aussagen.
Und dank einem Ausblick in die Zukunft erfährt man auch, wie die Geschichte weitergeht. Am Warmbächliweg soll mit dem «Holliger» ganz in der Nähe des Pionierwerks das nächste EBG-Projekt entstehen. Der Baurechtsvertrag mit der Stadt ist unterschrieben. Die EBG plant ein 16-stöckiges Hochhaus. Und es gibt auch bereits neue Ideen. Nebst kleineren und mittleren Wohnungen soll es hier Clusterwohnungen, zumietbare Zimmer oder die Abgabe von Wohnraum im Grundausbau geben. «Über den eigenen Gartenhag hinausschauen», sagt EGB-Vorstandsmitglied Monika Steiger, «gehört sozusagen zur DNA der EBG. Jede Zeit findet dazu andere Wege.»
Über diese neuen Wege und Ideen erzählen vielleicht dereinst die Strassennamen im Warmbächliquartier. Wer weiss?
Jubiläum 100 Jahre EBG
In Bern begann der genossenschaftliche Wohnungsbau im grösseren Stil vor genau 100 Jahren mit der Gründung der Eisenbahner-Baugenossenschaft (EBG), die als erstes die Siedlung Weissenstein realisierte. Heute noch wohnen dort 820 Menschen. Die EBG feiert ihr Jubiläum mit einem Festbuch zu allen sechs EBG-Siedlungen in Bern und Solothurn und dem Freilichttheater «Tüüfelskreis» im Weissensteingut. Geschrieben von Livia Anne Richard und frei nach dem Roman «Jesabel» von Irène Némirovsky, lässt das Stück die bewegte Gründerzeit der EBG-Siedlung aufleben. Regie: Lilian Naef, Premiere: 27. Juni. Weitere Informationen: www.teufelskreis.ch.