10 Jahre für Tempo 30?

von Reto Baumberger 19. September 2022

Vor einem Jahrzehnt wurde eine Petition für verkehrsberuhigende Massnahmen im Elfenauquartier eingereicht. Der Fall liegt nun beim Bundesgericht. Eine Zwischenbilanz zu langwierigen Tempo-30-Bestrebungen auf der Brunnadern- und Elfenstrasse.

10-jähriges Jubiläum…

15.10.2012. Die Freude war gross, als wir im Oktober des Jahres 2012 600 Unterschriften für ein verkehrsberuhigtes Elfenauquartier zusammen hatten und diese Regula Rytz überreichen konnten. Mit diesem ausgewiesenen Rückhalt der Quartierbevölkerung sollte Tempo 30 auf der Brunnadern- und Elfenstrasse nichts mehr im Wege stehen. Weniger Tempo, weniger Gefahren für unsere Schulkinder, weniger Lärm für die Anwohner, mehr Quartierqualität dank Aufhebung der Trennwirkung der Brunnadernstrasse. Alles nur Vorteile. Dachten wir. Bis die Einsprachen kamen.

März 2022. Das 10-jährige Jubiläum der Unterschriftensammlung ist kein freudiges Ereignis. Anfang Jahr wurde bekannt, dass sich das Bundesgericht als oberste Instanz mit der Einführung von Tempo 30 auf der Elfen- und der Brunnadernstrasse beschäftigen muss. Zuvor hatten Statthalteramt und Verwaltungsgericht die Beschwerden abgewiesen, die Einsprecher ziehen den Fall nun aber an die höchste Instanz weiter.

Kuriosum Brunnadernstrasse

Auf einer Länge von 600 Metern zieht sich die schnurgerade Brunnadernstrasse mitten durch ein belebtes familienfreundliches Quartier. Man wundert sich heute, was die Absichten waren, als diese Strasse so grosszügig mitten ins Quartier gestellt wurde.

Die Brunnadernstrasse – eine «unnötige Narbe im Elfenauquartier» (Foto: Reto Baumberger).

Die Elfen-, Brunnadern- und Egghölzlistrasse sind de facto Quartierstrassen und sollten als solche gestaltet werden: für Zubringer*innen, und nicht für Ausweichende von Rushhour-Staus. Die Brunnadernstrasse ist eine «Quartier-Schneise», eine unnötige Narbe im Elfenauquartier.

Vorteile für Sicherheit

Als Vater von zwei Kindern, Mitglied des Elternrates und Freund von Begegnungsorten im Quartier brauche ich mir die Vorteile von Tempo 30 nicht lange zusammenzuklauben. Argumente aus der Befürworter*innen-Ecke brauchen wenig Erklärungen. Die Verkehrsplanung der Stadt Bern sieht eine «flächendeckend hohe Wohnqualität in den Quartierzellen vor, dank grosser Sicherheit auf Schulwegen, einer alters- und behindertengerechten Strassenraumgestaltung, tiefen Fahrgeschwindigkeiten und minimalem quartierfremdem Verkehr». Sinnvoll und logisch. Das haben wir als Jugendliche schon im Physikunterricht gelernt. Der Anhalteweg bei 30 Kilometer pro Stunde liegt bei circa 17 Metern, bei 50 Kilometer pro Stunde bei 34 Metern. Die Aufprallenergie bei Tempo 30 entspricht einem Fall aus dreieinhalb Metern Höhe, bei Tempo 50 aus zehn Metern.

Es muss zuerst etwas passieren

Kinder sind auch Verkehrsteilnehmer*innen, und sie sind dann unterwegs, wenn auch der Individualverkehr am stärksten zirkuliert. Leider lässt die Rechtsprechung als Begründung für Tempo 30 das Argument der Sicherheit nicht zu, wenn keine tatsächliche Häufung an Unfällen auftritt.

Die Strassenverkehrsverordnung wurde vor langer Zeit für Autos gemacht, und nicht für Fussgänger*innen und Velofahrer*innen.

Gefährliche Situationen lassen sich auf der Brunnadernstrasse zuhauf beobachten; zum Glück führten sie bisher zu keinen schweren Unfällen. Traurig aber wahr: solange nicht «genügend» Personen zu Schaden kommen, bewegt sich nichts. Dass Argumente der Quartieraufwertung und präventiven Sicherheit keinen Platz haben, ist historisch bedingt. Die Strassenverkehrsverordnung wurde vor langer Zeit für Autos gemacht, und nicht für Fussgänger*innen und Velofahrer*innen. Noch heute ist es schwierig, dieses Paradigma zugunsten der Verkehrssicherheit umzukehren, von «so schnell wie möglich» zu «so schnell wie nötig». Grundsätzlich benötigt der Verkehr in Quartieren kein hohes Tempo, 20 bis 30 Kilometer pro Stunde reichen ohne grössere Einschränkungen. Nur dort, wo es der Allgemeinheit einen klaren Nutzen bringt, sollte Tempo 50 gelten.

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Umso schwerer fällt es mir, mich in die Köpfe der Einsprechenden zu versetzen. Tempo 30 auf einer Quartierstrasse schadet niemandem und bringt nur Vorteile. Oder? Mit einem Artikel in der Berner Zeitung/Der Bund (Abo), in dem sich der Mobilitätsverein Touring Club Schweiz (TCS) und der ehemalige FDP-Grossrat Adrian Haas öffentlich zu ihrer Einsprache geäussert haben, bekamen die Einsprechenden der Brunnadernstrasse nun ein Gesicht. Dies lässt mich nun einen Versuch wagen, deren Argumente und Gedankengänge nachzuvollziehen.

Das politische Spielzeug «Tempo 30»

Auch in der Stadt Bern ist Tempo 30 auf dem Vormarsch. Zum politischen Programm beruhigter Strassen (meist vorangetrieben von einer links-grünen Stadtregierung) gehört auch der erbitterte Widerstand, in der Regel orchestriert von rechtsbürgerlichen Parteien und Verbänden, so auch im Fall Brunnadernstrasse. Rückendeckung erhalten sie vom regionalen TCS. Derweil die Einsprecher*innen mit ihrer Mission ans Bundesgericht ziehen, sichern freiwillige Verkehrslots*innen bis zum finalen Entscheid am Bundesgericht die Strassenübergänge der Brunnadernstrasse für die kleinen Schüler*innen, bestückt mit vom TCS gesponserten Leuchtwesten und Signalkellen.

Am Ende bleibt die Lärmfrage

Im Argumentarium für eine Verkehrsberuhigung bleibt in vielen Fällen juristisch nur das Argument der Lärmfrage übrig. Denn um die Bewilligung einer Tempo-30-Zone zu bekämpfen, zücken die Gegner findige Argumente aus dem Regal der individuellen Freiheit und Lebensqualität. Darunter fallen erhöhter Lärmpegel bei den Bussen und Autos wegen «Stop and Go», Einbussen im Sekundenbereich bei den Reisezeiten, Fahrplan- und Kapazitätsprobleme bei den ÖV, usw. Hierfür werden kleinste Formfehler herausgepickt und die Gutachten der Behörden bis ins Detail seziert und beanstandet. Für die Gerichte sind solche Fälle eine mühselige und langwierige Arbeit. Auf dieser Bühne wird nun der finale Showdown an der Brunnadernstrasse gefochten, obwohl Tempo 30 unbestritten zur massgeblichen Reduktion des Lärmpegels beiträgt (tiefere Motordrehzahl, stark reduzierte Rollgeräusche), und die ÖV-Fahrpläne davon kaum tangiert werden.
Wen immer aus meinem Umfeld ich frage, alle bekunden dasselbe: Ist das verhältnismässig, mit sowas bis ans Bundesgericht zu gehen? Woher kommt dieser Trotz? Ist das nicht eine juristische Spielerei weniger Einzelpersonen auf Kosten von Steuergeldern und von einem ganzen Quartier, das während zehn Jahren auf sicherere Schulwege und Aufwertung des Quartiers wartet?

20-jähriges Jubiläum…

Bereits 2004 machten sich Bewegungen im Quartier für Tempo 30, sichere Bushaltestellen und Verkehrsinseln auf der Brunnadernstrasse stark. Die Chancen bestehen noch, dass wir mit dem 20-jährigen Jubiläum der Tempo-30-Bewegung im Quartier auch die Einweihung der 30er-Zone Brunnadernstrasse feiern können. 20 Jahre sind fast eine ganze Generation! Hoffen wir, dass das Bundesgericht im Sinne der Schulwegsicherheit entscheidet und nicht juristischer Hickhack gewinnt. Und dass immerhin die Kinder unserer Kinder die Früchte ernten dürfen.

Ursprüngliche Version erschienen in «Quavier», Zeitschrift der Quartiervertretung Stadtteil IV, Ausgabe Nummer 108, September 2022, Seite 25, Rubrik Schulen – Thema «Schulwegsicherheit»