abgesang europa

von Raphael Urweider 4. August 2016

tiere ziehen wieder durch die städte, menschen

liegen auf den plätzen ausgestreckt mit wunden, eitrig

heute sonderangebot, die marder, füchse und die

katzen voller flöhe wären ja wohl blöd, würden sie nicht

zugreifen, zubeissen, die tiere sind nicht schuld, tiere

sind nie schuld, sie sind ohne moral. da wird etwas verladen

in eine ambulanz, die schon fast alle farbe verloren, athen,

zweitausendscheißdrauf, europa zieht sich nun, nach

wirtschaftsfreudiger expansion in sich zusammen, wie

eine mit ameisensäure übergossene wegschnecke, noch

etwas zäher schaum an ihren rändern, in dem die

ausgegrenzten kleben, von kameras verfolgt, von

interessierten, unbezahlten journalisten die insektenforschern

gleich statistik machen – fickt euch südländer, und du, geh

doch nach russland, osteuropa, was wir seit millenien

zusammengerafft wollten wir niemals teilen, was habt ihr

euch gedacht? eine mutter sucht im müll nach ihren

kindern, die auch nichts brauchbares gefunden außer

vielleicht den tod denkt sie und schmiert sich eine droge

oder ist es leim ins zahnfleisch. was habt ihr euch gedacht?

in griechenland wuchs einst die hehre idee demokratie

auf dem buckel von sklaven und missbrauchten sklavinnen,

eine elite, nicht mal zwanzig prozent einer bevölkerung,

eine bequeme männerrunde, für die das unten unsichtbar

und an universelle  macht glaubte sowie an ideen. europa,

ein apartheidsgedanke und heute bezahlen wir die rechnung

kameraden,schnallt euch an für einen nächsten höllenritt,

zum glück gibt es all die tollen erfindungen: schießpulver,

stacheldraht, die verschiedenen folterinstrumente, stahl, 

gut erprobt in all den kolonien. vielleicht war ja europa nie

was anderes als blutrünstige mächte, die sich ferne welten

unterworfen, um dann noch zweitausendscheißdrauf weit

entfernte sklavereien aufrecht zu erhalten. das ging ja gut,

bis dann die sklaven beine kriegten, digitales wissen,

und sich dachten, ja, europa ist nicht nur ein wort nicht nur

gedanke, nein man kann da hin und auch sein glück versuchen

doch ist europa alt, das glück fast aufgebraucht und längst

verteilt. luxusprobleme häufen sich und katastrophen

versteckten sich gut unter streicheleinheiten unsrerer

gadgets. geschichte nunmehr hinter glas, geschmeidig

animiert: verdun in 3d., touchscreen theresienstadt, gulags

als kulissen für ego shooter, als wäre die vergangenheit

nunmehr ein streichelzoo, und kein weg führte je wieder zurück.

am abend schießen sie, am morgen gibt es jetzt kein wasser

mehr, an nachmittagen fliegen drohnen über felder, wo die

toten kühe liegen, was wir als zivilisation begriffen, wurde

aus langeweile angezweifelt und dann auf dem scheiterhaufen

mit anderen ideen abgefackelt, eiterte, und die dünne haut

platzte auf. jetzt leben wir in narben die nicht heilen wollen.

 

Das Netzwerk «Kunst+Politik» hat zwanzig Schweizer Autorinnen und Autoren angefragt, einen Text zu verfassen zum Thema «Nach Europa». Journal B veröffentlicht täglich einen der Texte, noch bis am 6. August. Erschienen sind bereits «Der Trost, der bleibt» von Jürg Halter, «Vielleicht ist Selma schön» von Julia Weber, «Die mit der weiten Sicht» von Ulrike Ulrich, «als ich in europa war» von Katja Brunner, «Ewiges Europa» von Georg Kreis, «Europapa» von Donat Blum und «Nach Europa» von Franz Hohler. Sämtliche Texte können auch auf der Website www.marignano.ch nachgelesen werden.